Eine moralische Bewertung des Bannes im Alten Testament

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Siegbert Riecker
veröffentlicht am 5.2.2024

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Der „Völkermord“ Israels im Land Kanaan bildet unter humanistischem Vorzeichen das größte moralische Problem des Alten Testaments.1 
Besonders seit dem 17. Jh. wird der Person und dem Buch Josua Abscheu, Hass und Spott entgegengebracht. Für Reimarius etwa ist Josua „der gröste Straßenräuber“, der „Galgen und Rad verdient“ hätte, weil er „von Mosi gelernt [hat] das Jus fortioris mit dem Vorwande eines göttlichen Befehls zu bemänteln, und dabey alle Barmhertzigkeit gegen die Unschuldigen aus den Augen zu setzen“.2 
Doch handelt es sich in Josua jedoch keineswegs um einen nationalistischen Eroberungskrieg unter religiösem Deckmantel.3 Der Bann an den sieben Nationen Kanaans lässt sich nur dann verstehen, wenn der Gott Jhwh nicht nur ein Hirngespinst ist, sondern real redet und handelt; wenn er nicht nur ein Nationalgott, sondern Herr und Richter der ganzen Welt ist. Auf einer solchen Grundlage bietet die Bibel verschiedene Ansätze zum Verständnis.4

Dabei muss zunächst unterschieden werden zwischen dem geschichtlichen Ereignis und der literarischen Darstellung. Das Buch Josua berichtet zwar über grausame Ereignisse, jedoch weder in blutrünstiger noch in gewaltverherrlichender Weise. Zudem muss unterschieden werden zwischen den beiden Ebenen Gottes Handeln und Handeln des Volkes: Das Volk hätte kein Recht zu einer eigenmächtigen Landnahme, sondern kann so etwas nur als „Instrument“ Gottes tun.5 Gott hat mit dem Menschen „eine Rechnung offen“ und bleibt so in seinem Tun gerechtfertigt:

  • Die Menschheit steht nach dem Sündenfall unter dem Urteil des Todes (Gen 3,17; vgl. 6,3; Ps 51,6f.; 90). Jeder Mensch stirbt, sei es ein natürlicher oder ein gewaltsamer Tod, und Gott ist dabei doch nicht im Unrecht. Jedes irdische Gericht nimmt das endgültige Gericht nur in Ansätzen vorweg.6
  • Heiden sind nicht ihren Götzen gegenüber verantwortlich, sondern jeder Mensch trägt für sein Handeln Verantwortung vor seinem Schöpfer Jhwh.
  • An dem Verhalten gegenüber Abraham und seinen Nachkommen entscheidet sich das Schicksal der Nationen (Gen 12,3; „Augapfel“ in Dtn 32,10; Sach 2,12).
  • Der Fluch über Kanaan führt von Beginn an in eine negative Richtung (Gen 9,24–27). Gott sieht die „Schuld des Amoriters“ (Kanaaniters, Gen 15,16), fast 700 Jahre lang8 geduldig anwachsen. 
  • Die Kanaaniter haben durch das 215 Jahre währende Zeugnis der Patriarchen in ihrem Land einen besonderen Einblick in den Willen Gottes. 
  • Die Sünden der Kanaaniter werden als abscheuliche „Greuel“ beschrieben, u.a. die kultische Verbrennung der eigenen Kinder (Lev 18,1–30; 20,22–24; Dtn 18,9–13).
  • Dabei handelt es sich nicht um eine subjektive Verletzung von Jhwhs Eitelkeit, sondern um objektives, himmelschreiendes Unrecht. Das Land selbst „speit“ die Bewohner aus (Lev 18,28). 
  • Grund für den Vernichtungsauftrag ist nicht das Recht des Stärkeren, sondern der Schutz des Schwächeren vor Verführung (zu Sünde, Götzendienst und Untergang, Dtn 7,1–5).10
  • Die Erzählung von Achan zeigt, dass Gott nicht mit zweierlei Maß misst.11 Israel selbst ist von dem Bann nicht ausgenommen. Die Propheten greifen die Terminologie auf, um das Volk vor dem Gericht endgültiger Zerstörung zu warnen.
  • Die Könige und Städte wissen von der Ankunft Israels, haben die Möglichkeit, sich friedlich zu unterwerfen, entscheiden sich jedoch für Krieg. 
  • Es handelt sich bei der Eroberung Kanaans um eine geschichtlich einmalige Situation. Spätestens mit Salomo ändert sich der Umgang (1. Kö 9,21). Die strenge Eingrenzung auf Landnahme und Bewohner des verheißenen Landes12 führt in dem Gesetz so zu einem beständigen Schutz der Zivilbevölkerung in den Kriegen Israels nach der Landnahme (Dtn 20,10–18).
  • Es darf nicht übersehen werden, dass die persönliche Situation, Vorannahmen und Perspektive des neuzeitlichen Lesers sein Urteil über das Geschehen beeinflussen. Für den reichen und abgesicherten Westen ist Glaube kaum mehr eine Frage von Leben und Tod. Entrechtete Gläubige aller Zeiten haben jedoch gerade in solchen Texten Hoffnung gefunden.13

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass eine vorschnelle Verurteilung Gottes oft in dem jüdisch-christlichen Erbe des Westens gründet, geprägt gerade auch durch den die ganze christliche Bibel durchziehende „Humanismus“ des Buches Deuteronomium.14 Ein angemessene Einordnung des Geschehens wird sich mit dem Schriftgelehrten Paulus im Spannungsfeld zwischen Römer 3 und 11 bewegen: Die Gerechtigkeit des Schöpfers und Richters der Welt ist per Definition unanfechtbar (3,4).

Menschliches Gerechtigkeitsempfinden hingegen ist durch den Sündenfall verdorben und sieht immer nur einen begrenzten Ausschnitt des Gesamtbildes. Gottes Urteile als Richter und die Vollstreckung derselben bleiben für den Menschen „unerforschlich“ (11,33) – diesem bleiben so nur zwei Möglichkeiten der Reaktion: Verständnislose Verurteilung (9,20) oder überwältigte Anbetung (11,36).
 

Quellen und Fußnoten

1 Erstveröffentlichung in Siegbert Riecker, Die Botschaft des Buches Josua. Eine theologisch-strukturelle Untersuchung, in: Christoph Raedel u. a. (Hg.), Biblisch erneuerte Theologie. Jahrbuch für Theologische Studien (BeTh). Band 2 (2018), Holzgerlingen: SCM R.Brockhaus, 2018, 159-184, hier 171-174.

2 Herrmann Samuel Reimarius, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, Hg. Gerhard Alexander, Frankfurt: Insel, 1972 (1767/8), 480, 479, zitiert in Cornelis Houtman, Josua im Urteil einiger Freidenker, in: Jacques van Ruiten/J. Cornelis de Vos (Hg.), The Land of Israel in Bible, History, and Theology. Studies in Honour of Ed Noort, VT.S 124, Leiden: Brill, 2009, 339–354, hier 345. Vgl. G. Ernest Wright in Robert G. Boling, Joshua. A New Translation with Notes and Commentary, AncB, Garden City: Doubleday, 1982, 4.

3 Wenn man die theologischen Aussagen des Buches für Fiktion hält, dann würde das für die geschichtlichen Aussagen umso mehr gelten: Es gäbe dann überhaupt keine Eroberung Kanaans, der Bann würde nie vollstreckt. Die moderne historische Kritik reduziert die Erzählungen so auf eine fiktive Konstruktion der Identität Israels durch scharfe Abgrenzung, vgl. John J. Collins, The Zeal of Phinehas: The Bible and the Legitimation of Violence, JBL 122 (2003), 3–21, hier 10–12.

4 Vgl. Sammlungen von Argumenten zur Rechtfertigung alttestamentlicher Gewalt u.a. Christopher J.H. Wright, Old Testament Ethics for the People of God, Downers Grove: IVP, 2004, 472–480, Eugene H. Merrill, The Case for Moderate Discontinuity, in: C.S. Cowles u. a. (Hg.), Show Them no Mercy. 4 View on God and Canaanite Genocide, Grand Rapids: Zondervan, 2003, 61–109, hier 80–88, J. Gordon McConville/Stephen N. Williams, Joshua, The Two Horizons Old Testament Commentary, Grand Rapids: Eerdmans, 2010, 108–124, Philip Satterthwaite/J. Gordon McConville, Exploring the Old Testament. Volume 2. The Histories, London: SPCK, 2007, 70, Stanley A. Ellisen, Von Adam bis Maleachi. Das Alte Testament verstehen, Dillenburg: Christliche Verlagsgemeinschaft, 52005 (engl. 1984), 85–86, Herbert Klement, Krieg und Frieden im Alten Testament. Ein Thesenpapier, in: ders./Julius Steinberg (Hg.), Freude an Gottes Wegweisung. Themenbuch zur Theologie des Alten Testaments, Riehen: arteMedia, 22012, 199–210, sowie grundsätzlich zum Umgang mit dem Problem Ed Noort, Das Buch Josua. Forschungsgeschichte und Problemfelder, EdF 292, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, 15–18, Eryl W.Davies, The Morally Dubious Passages of the Hebrew Bible: An Examination of Some Proposed Soutions, CBR 3 (2005), 197–228, Arie Versluis, The Command to Exterminate the Canaanites: Deuteronomy 7, OTS 71, Leiden: Brill, 2017, 330–345.

5 Merrill, Discontinuity, 84–85. Diese Unterscheidung spielt beispielsweise eine Rolle, wenn Israel aus Gründen der Gerechtigkeit verpflichtet ist, seinen Gegnern Frieden anbieten muss, bevor der Kampf beginnt. Gott hingegen kann um seiner höheren Ziele willen die Herzen der Gegner verstocken, so dass ein Friedensabkommen zunichte wird, s.u. zu Jos 11,19f.

6 Vgl. Wright, Ethics, 478–479.

7 Walter Brueggemann, Theology of the Old Testament. Testimony, Dispute, Advocacy, Minneapolis: Fortress, 1997, 503.

8 Nach biblischer Berechnung (MT) leben die Patriarchen 215 Jahre lang in Kanaan (Einzug 2092 v. Chr. bis Isaak: 25 Jahre, Gen 12,4; 21,5; bis Jakob: 60 Jahre, Gen 25,26; bis Auszug: 130 Jahre, Gen 47,9), ihre Nachkommen 430 Jahre in Ägypten bis 1447 v. Chr. (Ex 12,40 [LXX abweichend: 430 Jahre in Kanaan und Ägypten, dann nur 215 Jahre in Ägypten]; 480 Jahre vor Tempelbau 967 v. Chr., 1.Kö 6,1).

9 Jacob Milgrom, Leviticus 17–22. A New Translation with Introduction and Commentary, AB, New York: Doubleday, 2000, 1417, vgl. Wright, Ethics, 475–476, McConville/Williams, Joshua, 111.

10 Gordon Mitchell, Together in the Land. A Reading of the Book of Joshua, JSOT.S 134, Sheffield: JSOT Press, 1993, 56–58, vgl. Ex 23,33; 34,15f.; Num 33,55; Dtn 20,17f.; Jos 23,13; Ri 2,2f.; 3,5f.; Ps 106,34–39.

11 Vgl. zur Frage der „Fairness“ Wright, Ethics, 477–478, John Goldingay, Justice and Salvation for Israel and Cannan, in: Wonil Kim u. a. (Hg.), Reading the Hebrew Bible for a New Millennium. Form, Concept and Theological Perspective. Volume 1: Theological and Hermeneutical Studies, Harrisburg: Trinity, 2000, 169–187. 

12 Norbert Lohfink, „חרם“, in: ThWAT 3, Stuttgart: Kohlhammer, 1982, 192–213, hier 211, Merrill, Discontinuity, 93, Moshe Greenberg, ḤEREM, EncJud 9, Farmington Hills: Thomson Gale, 22007, 9–13, hier 11.

13 Jeph Holloway, The Ethical Dilemma of Holy War, SWJT 41 (1998), 44–69, hier 63–65 mit Verweis auf Terence E. Fretheim, Deuteronomic History, IBT, Nashville: Abingdon, 1983, 65. Vgl. die Beschreibung der Gegner in Num 13,31–33.

14 Collins, Zeal, 9 mit Verweis auf Moshe Weinfeld, Deuteronomy and Deuteronomistic School, Winona Lake: Eisenbrauns, 1992, 282–297.