Warum wir dringend über Abtreibung reden müssen

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Sabina Scherer
veröffentlicht am 30.1.2024

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Pro Life, Pro Choice oder irgendwo dazwischen: Wie stehst du zum Thema Abtreibung? Die Debatte ist geprägt von den beiden Extremen, doch ich vermute, dass sich die allermeisten Menschen irgendwo dazwischen verorten würde – oder einfach schweigen. 
Angesichts dessen, was aktuell auf politischer Ebene passiert, ist dieses Schweigen aus Sicht derer, denen der Lebensschutz ein Anliegen ist, fatal: Während die Ungeborenen nach deutschem Recht als Träger von Menschenwürde gelten, prüft eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission aktuell, wie man Abtreibung außerhalb des Strafgesetzbuchs regeln könnte – sie soll also legal werden. 
Sollte dies gelingen, wird die nächste Debatte darüber geführt werden, wie lange Abtreibung möglich sein wird. Ich bin mir relativ sicher, dass wir über eine Ausweitung der Frist bis zur 24. Schwangerschaftswoche (Ende 6. Monat) diskutieren werden. 

Für viele klingt das fast schon absurd, doch rein argumentativ ist diese Frist besser zu begründen, als andere Zeitpunkte. So schreibt auch die EKD in ihrer aktuellen Stellungnahme zur gesetzlichen Regelung von Abtreibungen: „Spätestens ab der extrauterinen Lebensfähigkeit, die sich zwar nicht exakt datieren lässt, aber üblicherweise bei der 22. Schwangerschaftswoche p.c. angesetzt wird, sollte ein Schwangerschaftsabbruch strafrechtlich geregelt und nur in klar definierten Ausnahmefällen zulässig sein.“

Alle Diskussionen um das Thema Abtreibung laufen am Ende auf zwei Argumente hinaus: Die Frage danach, ob das Ungeborene ein Mensch ist und die Frage danach, ob die körperliche Autonomie der Mutter über dem Lebensrecht des Kindes steht. Ersterer kann man sich aus unterschiedlichen Perspektiven nähern: aus biologischer, philosophischer, theologischer oder juristischer Sicht. Biologisch betrachtet ist ein Embryo ein individueller lebendiger menschlicher Organismus. Das darzulegen und zu begründen ist zwar nicht schwer, doch aber manchmal ganz schön mühsam. Was im Kontext „gewollter“ Schwangerschaften selbstverständlich ist, scheint plötzlich gar nicht mehr so klar zu sein: Dass das Leben des Individuums bei der Befruchtung beginnt und es sich nicht zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt. 

Diese Tatsache alleine reicht allerdings noch nicht dazu aus, um zu begründen, dass der Embryo schützenswert ist. Auf philosophischer (oder auch auf theologischer) Ebene findet eine Diskussion statt, die viel mehr Interpretationsspielraum bietet: Ab wann besitzt ein Mensch Würde und Wert? Ist jeder, der zur Spezies Mensch gehört, auch automatisch Träger von Menschenrechten (man spricht dann auch oftmals von „Person“)? Ich persönlich denke, dass es weder einen guten Grund, noch ein geeignetes Kriterium dafür gibt, das Mensch-Sein vom Person-Sein zu trennen. Doch am Ende ist das Ergebnis, zu dem man diesbezüglich kommt, eine Frage von Weltanschauung und Definitionen. 

Der entscheidende Punkt, warum manche Menschen die Menschlichkeit der Ungeborenen anerkennen und trotzdem für das Recht auf Abtreibung sind, ist die körperliche Autonomie der Mutter. Sie argumentieren, dass es völlig irrelevant sei, ob ein Embryo ein Mensch ist oder nicht: Die Schwangere unabhängig davon ein Recht darauf hat, ihre körperliche Autonomie herzustellen. Obwohl ich gegen diese Argumentation einiges einzuwenden hätte, ist sie im Grunde stimmiger, als sämtliche Versuche, den Ungeborenen das Mensch-Sein abzusprechen. Doch wer sie konsequent vertritt muss zu dem Schluss kommen, dass Abtreibung folgerichtig bis zur Überlebensfähigkeit des Kindes außerhalb des Mutterleibs – die heutzutage ungefähr bei der 24. SSW liegt – möglich sein muss. Denn ansonsten wären die Menschlichkeit und das Recht auf Leben des Ungeborenen ja gar nicht so irrelevant, wie zunächst behauptet wurde. Nach diesem Zeitpunkt wäre es grundsätzlich möglich, körperliche Autonomie wiederherzustellen, ohne das Kind dabei zwangsläufig zu töten. Davor ist der Tod des Ungeborenen unumgänglich. 

Als wichtigste Punkte gegen das Argument der körperlichen Autonomie würde ich das Verantwortungsverhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern, die grundsätzliche Überlegenheit des Lebensrechts im Vergleich zu anderen Rechten und die Verantwortlichkeit für die Konsequenzen eigener Handlungen benennen. Körperliche Autonomie ist ein extrem hohes Gut, doch ich würde infrage stellen, ob sie all diese Prinzipien aushebeln kann. Letztlich spiegelt die Realität der Debatte aber auch in diesem Punkt wider, worum es im Schwangerschaftskonflikt geht: Um ein Dilemma, das sich nicht so einfach lösen lässt.

Natürlich gibt es noch viele andere Argumente, die in der Debatte um Abtreibung angeführt werden. Wer die genannten Argumente jedoch ein Mal durchdacht hat, hat den Kern der Problematik verstanden. Jedes andere Argument läuft am Ende auf die beiden Fragen der Menschlichkeit der Ungeborenen und der körperlichen Autonomie der Mutter hinaus. Wem aber nicht egal ist, dass bei einer Abtreibung ein kleiner Mensch stirbt, der kann davon nicht unberührt bleiben, dass das gesetzlich verankerte Lebensrecht der Ungeborenen zunehmend infrage gestellt wird. Viele Menschen sehen den Lebensschutz als Nischenthema fundamentaler Christen. Doch auch wenn der Glaube an Gott noch weitere Gründe für die Achtung der Würde der Ungeborenen bietet, ist er bei Weitem nicht die einzig mögliche Grundlage für den Lebensschutz. Abtreibung außerhalb des Strafrechts zu regeln heißt nicht, Frauen Rechte zu geben, sondern Ungeborenen Rechte wegzunehmen. Nur wird das medial anders verpackt. Deshalb müssen wir dringend über Abtreibung reden. Mit allen. Jeder von uns. 

Ich möchte dich ermutigen, über deinen Standpunkt in Bezug auf Abtreibung nachzudenken, die Argumente zu durchdenken und mutig ins Gespräch über dieses wichtige Thema zu gehen. In meinem Buch Mehr als ein Zellhaufen, das im Juni 2024 erscheinen wird, findest du die wichtigsten Argumente der Abtreibungsdebatte ausführlich erklärt.