Bibel richtig auslegen, durch Beachten der Textgattungen!
Simon Garrecht
veröffentlicht am 13.6.2023
In der täglichen Auseinandersetzung mit Texten verschiedener Art, ist für die meisten völlig selbstverständlich diese entsprechend ihrer Gattung zu lesen und zu verstehen.
Was für Romane, Kochrezepte und Sachbücher gilt, gilt nicht weniger für die teils sehr verschiedenartigen Literaturgattungen der Bibel, die es für den Ausleger unverzichtbar machen, sich mit diesen auseinanderzusetzen.
Bei manchen Texten geschieht dies mehr oder weniger intuitiv – Briefe, Biografien, Geschichtswerke etc. kennen wir auch aus unserer eigenen Erlebniswelt. Diese werden zwar trotzdem nach anderen Prinzipien verfasst, als das bei antiken Werken desselben / ähnliches Genres der Fall gewesen ist. Dennoch ähneln sie uns bekannten, zeitgenössischen Textarten ausreichend genug, dass wir viele Auslegungsfehler gar nicht erst begehen.
Anders sieht es dabei schon bei dem neutestamentlichen Buch der Offenbarung aus, zu dem es die abenteuerlichsten Auslegungen gibt, die nicht selten dystopischen Science-Fiction Filmen aus Hollywood entsprechen. Das vor allem deshalb, weil in ihrer Auslegung oftmals nicht berücksichtigt wird, dass es noch viele andere zeitgenössische Texte gab, die wie die Offenbarung grob dem Genre der „Apokalypsen“ zuzuordnen sind. Viele typische Symbole und Motive, finden sich in auch in diesen anderen Texten, sodass manche falsche spekulative Auslegung im Keim erstickt wäre, würde man dies berücksichtigen.
Was ist eine Literaturgattung?
Unter einer Literaturgattung, versteht man eine Art von Text, die spezifische Eigenheiten aufweist, deren Kenntnis für das korrekte Verständnis von diesem entscheidend wichtig ist. Die Bibel ist eine Textsammlung, die nach dem protestantischen Kanon ingesamt 66 Bücher umfasst. Diese Bücher unterscheiden sich nicht nur in ihrer Länge und dem Abfassungszeitpunkt zum Teil sehr stark, sondern auch in ihren gattungsspezifischen Eigenschaften. Diese variieren je nachdem ob wir uns mit den in der Bibel enthaltenen antiken Briefen, alttestamentarische Erzählungen, Gleichnissen oder apokalyptischen Texten auseinandersetzen, um mal nur ein paar Beispiele zu nennen. Ganz nach Fee & Stuart kann dabei festgehalten werden: „Das Ziel einer guten Auslegung besteht einfach darin, zur eigentlichen Bedeutung des Textes zu gelangen - zu der von dem Verfasser beabsichtigen Bedeutung.“ Die eigentliche vom Verfasser beabsichtigte Bedeutung hängt zum Teil wesentlich von der von ihm verwendeten Literaturgattung ab. Das macht es für den Leser unabdingbar, diese zu ermitteln um dem Verfasser in der Auslegung seiner Texte kein Unrecht zu tun. Läse man beispielsweise einen poetischen Text, dessen Inhalte bewusst mit Hyperbeln (Übertreibungen) und bildhafter Sprache vermittelt werden, als einen wortwörtlichen Tatsachenbericht, käme man zu fatalen Fehlschlüssen. Im folgenden werden wir uns mit drei biblischen Beispielen verschiedener literarischer Gattungen auseinandersetzen, die deutlich machen werden, welche entscheidende Rolle diese in der Auslegung spielen.
Evangelien
Die vier kanonischen Evangelien des Neuen Testaments wurden neben anderen Schriften ab der Mitte des 2. Jahrhunderts durch christliche Autoren als solche bezeichnet. Heute vertritt vermutlich die Mehrheit der neutestamentlichen Forscher die These, dass es in der Antike keine andere Werke gab, die den uns bekannten Evangelien entsprechen. Doch argumentieren auch manche Neutestamentler dafür, dass die vier kanonischen Evangelien, in vielerlei Hinsicht charakteristische Merkmale Griechisch-Römischer Biografien aufweisen und diesen im wesentlichen entsprechen. Trotz dieser Herausforderungen in der literarischen Zuordnung, zeichnen sich einige für die Evangelien typische Charakteristika ab, die in ihrer Auslegung unbedingt zu beachten sind. Zuallererst gilt es zu beachten, dass es den Autoren der Ev. nicht ausschließlich darum ging, die Lehren Jesu und historische Begebenheiten rund um sein Leben, zu informativen Zwecken für die Nachwelt zu erhalten. So schreibt der Autor des Lukasevangeliums in seinem Prolog an Theophilus gerichtet, mit welcher Zielrichtung er sein Werk verfasst: „damit du die Zuverlässigkeit der Dinge erkennst, in denen du unterrichtet worden bist.“ (Lk 1,4 ELB) Auch im Joh. Ev. ausdrücklich benannt, dass es mit der Intention geschrieben wurde, in den Lesern den Glauben an die Gottessohnschaft Jesu zu wecken und ihnen heilsrelevante Botschaften zu vermitteln (Joh 20:31). Über die Aussagen der Evangelisten hinaus, lassen sich anhand verschiedener Kriterien ihre Motive und Interessen erkennen. Dazu gehören die Selektion, chronologische Anordnung und Gestaltung des ihnen vorliegenden Materials. Darum ist es in der Auseinandersetzung mit den Evangelien wichtig, diese in dem Bewusstsein zu lesen, dass sie mit jeweils unterschiedlichen theologischen Schwerpunkten und Betonungen verfasst wurden. Weder für sich genommen, noch in der Gesamtheit stellen die Evangelien damit ein umfassendes Gesamtbild des Wirkens und der Lehren Jesu dar. Vielmehr verschriftlichten ihre Autoren aus den ihnen vorliegenden mündlichen Traditionen jene die für ihre Schwerpunktsetzung relevant waren, ordneten Sie zum Teil in unterschiedlichen Themenblöcken an, kürzten oder oder ergänzten sie mit für ihrer Lesergruppe unbekannten Hintergrundinformationen (siehe Mt 24,15-16, Mk 13,14 und Lk 21,20-21 im Vergleich).
Prophetenschriften
Die prophetischen Schriften des Alten Testaments sind untrennbar mit ihrem kontinuierlichen Rückbezug zum mosaischen Bund verbunden. Das ist in deren literarischen Zuordnung von Bedeutung, um sie nicht auf auf die Vorhersage zukünftiger Ereignisse zu beschränken. Wo sie zukünftige Ereignisse ankündigen, geschieht dies nämlich meist entweder in Form anstehender Gerichtshandlungen Jahwes, als Strafe für Abtrünnigkeit gegenüber ihm und dem mit ihm geschlossenem Bund. Oder aber in Form von Verheißungszusagen, bei einem Einhalten der Gebote des Bundes. Auch wenn die Propheten ihren Hörern und Lesern manche Eigenschaften Gottes neu oder intensiver vor Augen führen, ist ihre Botschaft als solche nicht neu. Vielmehr wäre es treffender davon zu sprechen, dass sie dieselbe Botschaft des Bundes, die wir so im Pentateuch entfaltet finden, für ihre Zeit und Hörerschaft neu formuliert und in Erinnerung gerufen haben (Fee & Stuart 2022:251). Auch die messianische Hoffnung, die sich durch viele der prophetischen Schriften zieht, ist gemäß des neutestamentlichen Verständnisses (Lk 24,44) bereits im Pentateuch angelegt (siehe auch 5. Mo 18,18) wird aber in den Propheten weiter entfaltet (Fee & Stuart 2022:253). Markant tritt in den prophetischen Schriften überdies hervor, dass Gott selbst als der Redende auftritt. Seine von den Propheten mündlich an das Volk gerichteten und später verschriftlichten Botschaften, werden an vielen Stellen mit Aussagen wie „So spricht der Herr“ oder als „Ausspruch des Herrn“ eingerahmt (Fee & Stuart 2022:250). Dieser direkten Anredeform schließen sich vielen Ausführungen über die Wesenszüge Gottes und seine damit verbundenen Gerichts-/Segenshandlungen und seinen Gedanken über Israel und andere Völker an. So kann davon gesprochen werden, dass in der Selbstoffenbarung Jahwes, durch die prophetischen Schriften seine Charaktereigenschaften so scharf profiliert werden, wie an wenig anderen Stellen der Hebräischen Bibel (Zimmerli 1999:161).
Weisheitsliteratur
Neben dem Hohelied Salomos, das im weiteren Sinne zu den Weisheitsschriften der Hebräischen Bibel gehört, werden in der Regel eine Reihe von Weisheitspsalmen, die Sprüche, sowie das Buch Hiob und Prediger dazu gezählt. Für die Auslegung der biblischen Weisheitsschriften ist es wichtig im Bewusstsein zu behalten, worin Weisheit für ihre Autoren besteht: Ausgerichtet auf Gott zu sein und seine Wahrheiten auf täglicher, auch ganz praktischerweise zu leben (Fee & Stuart 2022:308). So beschäftigt sich die Weisheitsliteratur, besonders das Buch der Sprüche, in vielerlei Hinsicht, mit ganz praktischen Fragen und Themen des Lebens. Hier ist im Blick zu behalten, dass die darin enthaltenen Spruchweisheiten oftmals mehr auf Einprägsamkeit und Reimbarkeit ausgelegt waren, als auf eine vollständige Darstellung der angesprochenen Punkte. Sie arbeiten mit bildhaften Vergleichen und ungenauen Feststellungen, womit sie eher eine Stoßrichtung vorgeben, als für sich genommen allumfassende Wahrheiten abzubilden (Fee & Stuart 2022:317). Daher bleibt es unumgänglich, die Sprüche im Lichte des biblischen Gesamtzeugnisses zu lesen. Neben alltäglichen werden in der Weisheitsliteratur aber auch die großen Fragen der Sinnhaftigkeit des Lebens, dem Ursprung von Leiden und den wirklich bedeutsamen Dingen des Lebens gestellt. Dies alles aber nicht auf die Weise, dass jede Aussage für sich genommen eine göttliche Wahrheit darstellt. Besonders im Buch Hiob und dem Buch Prediger ist es wichtig, den ganzen Argumentationsverlauf zu erkennen. Andernfalls zitiert man fälschlicherweise Einzelaussagen als biblische Wahrheiten, die eigentlich als falsche Auffassungen über Gott und das Leben gemeint sind (Fee & Stuart 2022:305). Dies gilt für das Buch Hiob in besonderer Weise, wo sich auf lange und spekulative Ausführungen von Hiob und seinen Freunden, über dessen leidvollen Umstände Gott selbst zu Wort meldet und seine Perspektive hineinbringt. Aber auch das Buch Prediger, kann auf solche Weise verstanden werden. So endet das Buch nach langen Ausführungen über die scheinbare Nichtigkeit verschiedener Dinge und Erfahrungen, die das menschliche Leben bietet, mit einem Appell, dass alles vorher gesagte im Lichte dessen verstehen lässt: „Das Endergebnis des Ganzen lasst uns hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote! Denn das ⟨soll⟩ jeder Mensch ⟨tun⟩. Denn Gott wird jedes Werk, es sei gut oder böse, in ein Gericht über alles Verborgene bringen.“ (Koh 12,13-14 ELB).
Literaturverzeichnis:
Carson, Donald A. & Moo, Douglas J. (2010). Einleitung in das Neue Testament. 1. Auflage. Gießen: Brunnen.
Fee, Gordon D. & Stuart, Douglas (2022). Effektives Bibelstudium. Die Bibel Verstehen und Auslegen. 9. Auflage. Gießen: Brunnen.
Koester, Helmut (1999). Evangelium. RGG, 1736.
Licona, Michael R. (2017). Why are there differences in the gospels? What we can learn from Ancient Biography. Oxford University Press: New York.