Warum der moderne Humanismus dehumanisiert
Dave Krohn
veröffentlicht am 8.12.2023
Der Mensch muss sich sein eigenes Wesen schaffen; indem er sich in die Welt wirft, in ihr leidet, in ihr kämpft, definiert er sich allmählich; und die Definition bleibt immer offen; man kann nicht sagen, was ein bestimmter Mensch ist, bevor er nicht gestorben ist, oder was die Menschheit ist, bevor sie nicht verschwunden ist.
- Jean Paul Satre 1
Als ich meinem Gegenüber auf dem Bildschirm die Frage stellte, was der Mensch denn Wert ist, überlegte dieser kurz und antwortete: „Nichts“.
Wir hatten uns in einem Online-Chat bereits über Politik, Weltanschauungen und Gott unterhalten. Erstaunlich war: Eben dieser Gesprächspartner bezeichnete sich kurz zuvor selbst als atheistischen Humanisten.
Die fragende These in der Überschrift dürfte den ein oder anderen verblüffen: Ist das nicht ein Widerspruch in sich - ein dehumanisierender Humanismus? Der folgende Text soll – jedenfalls anstoßend – zeigen, dass das tatsächlich ein Widerspruch ist – und dass dennoch eine breite Masse genau diesen dehumanisierenden Humanismus vertritt.
Was ist der Mensch?
Viele, die Sartre zustimmen, versuchen erstaunlicherweise dennoch, den Menschen zu kategorisieren. Die eigene Individualität wird im Europa des 21. Jahrhunderts betont, aber der Mensch verliert seine einzigartige Klassifizierung in dieser Welt. Wenn die theologische Tradition dem Menschen über mehrere Jahrhunderte hinweg einen einzigartigen Wert verlieh, so zerbrechen Menschen wie Nietzsche ebendiesen Wert, indem sie den Menschen höchstens zu einem Übermenschen machen wollen, ihm aber jeglichen transzendenten Anteil nehmen.2 Nietzsche will den Menschen erhöhen, empfindet ihm aber gegenüber nichts als Verachtung.
Nietzsche ist hier ein Vorreiter, dessen Gedanken heute zur Normalität werden. Im modernen Humanismus entstehen zwei Tendenzen der Klassifizierung, die nun gekürzt dargestellt und bewerten werden sollen: Die Vertierlichung des Menschen und die Rationalisierung des Menschen.
Der Mensch als Tier
Es ist unumstritten, dass der menschliche Körper Teil der irdischen Fauna ist. Die Frage der Klassifizierung des Menschen ist damit jedoch nicht behandelt! Wir tragen gemeinsame Merkmale mit der Tierwelt (sogar sehr viele), aber machen uns diese Gemeinsamkeiten gänzlich zu Tieren? Der Biologe Hermann Wagner behauptet:
„In anderen Worten, in der heutigen Biologie spielt der Einfluss eines Gottes, eines allmächtigen Schöpfers, der genau wusste, was er tat und worauf er hinauswollte, keine Rolle. Genauso braucht die Biologie keine Rückgriffe auf nichtmaterielle Phänomene, um die Leistungen der Lebewesen zu erklären. Der Begriff „Seele“ kommt nicht vor.“3
Während es für wissenschaftliche Beobachtungen wichtig ist, eine klare Fachbegrenzung vorzunehmen, so bildet diese Aussage jedoch bei Wagner ein umfassendes Weltbild:
„[...] bisher sind die Naturwissenschaften und damit auch die Biologie in der Erklärung der Welt im Sinne eines methodischen Naturalismus noch nicht an eine unüberwindbare Grenze gestoßen. Ich vermute, dass dies auch so bleiben wird.“4
Diese Aussage ist fatal. Zum einen ist sie falsch, denn die Bewusstseinsforschung kann die geistigen Prozesse des Menschen nicht vollends naturalistisch darstellen.5 Zum anderen ist es ein Statement, das den Menschen einordnet: „Alles am Menschen kann und wird naturalistisch erklärt werden“. Ergo: Der Mensch ist nur Materie. Das jedoch zieht einen ganzen Rattenschwanz an Überlegungen nach sich! Es gibt damit tatsächlich keinen Substanzdualismus beim Menschen, also keine Seele oder Geist. Der Mensch verliert damit jede Teleologie, also jede Zielgerichtetheit in dieser Welt: Er ist Ergebnis des Zufalls, stellt willkürliche moralische Gesetze auf, motiviert sich durch hormonelle und neurologische Zustände und verschwindet im Nichts.
Aber, so könnte man sagen: Das ist ja keine Dehumanisierung. Der Mensch wird ja humanisiert, er wird jeder transzendenten-metaphysischen Ebene entzogen.
Aber was ist dann noch der Mensch im Gegensatz zu einem Hund? Oder einer Fliege? Oder einem Baum?
Der Mensch wird durch den Naturalismus nicht zum „Übermenschen“. Er wird zu einer Bedrohung für seine Umwelt, was die neueren Stimmen der extremen Umweltaktivisten zeigen: Kinder seien eine Bedrohung für das Klima, der Mensch eine Bedrohung für den Planeten. Hier ist eine radikale Entmenschlichung zu sehen! Aus einem Verwalter der Erde (wenn auch nicht unbedingt einem guten) wird ein Parasit. Der Mensch wird zu einem Tier, das versucht, sich selbst zu erklären. Das ist eine Entmenschlichung. Ein Tier hat keine unantastbare Würde.
Der Mensch als Maschine
Die zweite Kategorisierung des Menschen – welche in diesem Artikel zuvor als Rationalisierung bezeichnet wurde – macht den Menschen nicht zum Tier, sondern zur Maschine. Transhumanismus ist ein neuzeitlicher Begriff, der die Frage nach der Natur des Menschen neu aufwirft. Im Gegensatz zur Vertierlichung des Menschen wird der Mensch hier zu Gott: Das Gehirn als mächtiges Rechenzentrum mache es dem Menschen möglich, sich selbst und seine Umwelt selbst zu kreieren. Alles dreht sich hier um die Frage nach dem menschlichen Bewusstsein: Was ist das EGO, das ICH? Eine verbreitete Ansicht des neuen Humanismus: Das Gehirn erzeugt alles, was den Menschen ausmacht. Die Folge? Jede Bewusstseinserfahrung wird als Illusion betitelt. Daniel Dennett und weitere Vertreter halten an dieser Überzeugung fest: Die menschliche Natur sei in den letzten Jahrtausenden mystifiziert worden, und eigentlich glaube der Mensch einer Lüge über sich selbst, um dem eigenen Leben Bedeutung zu verschaffen. Susan Blackmore erwidert darauf:
„Wenn du sagst „es ist alles eine Illusion“ bringt dich das nirgendwohin – außer dass ganz neue Fragen aufkommen. Warum sollten wir alle Opfer einer Illusion sein, anstatt die Dinge so zu sehen, wie sie sind? Was für eine Art Illusion ist es überhaupt? Warum so und nicht anders? Kann man die Illusion durschauen? Und wenn ja, was passiert dann?“6
Es klingt modern und intelligent, die menschliche Erfahrung auf eine neurologisch erzeugte Illusion zu reduzieren – aber jeder, der dieses Statement macht, betitelt sich damit selbst als nicht vertrauenswürdig. In so einem Menschenbild, in dem der Mensch determinierte Maschine ist (was übrigens nicht mit der Funktionalität des Gehirns übereinstimmt), gibt es keine sinnstiftende Kommunikation mehr. Jedes Wort ist nur ungenaue Berechnung organischer Rechenmaschinen.
Man kann so ein Menschenbild vertreten. Doch danach leben ist eine andere Sache. Denn kommt es zu realen menschlichen Interaktionen – die Intimität mit einem geliebten Menschen, das Trösten eines Freundes oder die sinnstiftende Diskussion mit dem Uniprofessor – so ignorieren diese modernen Humanisten ihr eigenes Menschenbild gekonnt und geben sich freudig ihrer Illusion der Lebensbedeutung hin – und machen sich damit unauthentisch.
Ein drittes Menschenbild
Es wurden zwei Ansichten erklärt: Vertierlichung und Rationalisierung. Doch eine Dritte wurde bisher verschwiegen – obwohl es vermutlich die prominenteste ist.
Die agnostische Sicht.
Die meisten Menschen stellen sich im modernen Humanismus vermutlich die Fragen nicht, die in diesem Text aufgeworfen werden. Ganz im Geiste des Hedonismus sagen sie: Sentio ergo sum – ich fühle, also lebe ich. Damit ist die Frage für viele beantwortet. Leben und leben lassen. Genieße den Tag. Sei glücklich.
Alle anderen Fragen, die das Leben an die Natur des Menschen stellt – der Tod, die Ethik, das Transzendente – werden schnell mit folgendem Satz beantwortet: Das kann man nicht wissen und das muss jeder für sich selbst beantworten. Was für ein Widerspruch in einem Satz! Wenn man es doch nicht wissen kann, wer der Mensch ist, was seine Bestimmung ist – wie soll man es dann für sich selbst beantworten?
Der moderne Humanismus erzeugt eine Existenzbeliebigkeit. Man sieht kein Problem darin, dass der Moslem von einem ewigen Paradies und dem Gericht Allahs spricht und der Esoteriker von einer Reinkarnation. Jedem das Seine!
Dem Leser sei es selbst überlassen, diesen Widerspruch zu bewerten.
Zurück zum Humanismus?
Der ursprüngliche Humanismus stellt den Menschen nicht grundlos in das Zentrum. Unsere europäischen Menschenrechte resultieren aus einem Menschenbild, das theistisch geprägt ist. Besonders das Juden- und Christentum hat auf diesem Kontinent eine prägende Rolle, wie es sich beispielsweise in unseren deutschen Gesetzen abzeichnet.
Die Ebenbildlichkeit des Menschen aus Genesis 2 bringt viele gedankliche Folgen mit sich: Der Mensch besitzt ein echtes Bewusstsein (πνεῦμα), er hat ein teleologisch begründetes sein, er besitzt Wert vor einem Schöpfer-Gott, er bekommt echte Verantwortung in dieser Welt usw. Nach dem biblischen Menschenbild ist der Mensch…
- Von Gott geliebt (Johannes 3,16)
- Als wertvoll erachtet (Psalm 8)
- Mit Wesenseigenschaften Gottes ausgestattet (Genesis 1,27)
- Objekt der Erlösung Gottes (Johannes 3,16)
- Für die Ewigkeit gemacht (Johannes 11,25)
- Verantwortlich vor dem moralischen Maßstab Gottes (Römer 2,12)
- ...
Es muss angemerkt werden, dass es in der Geschichte des Christentums kein homogenes „Menschenbild“ gab. Alle Christen waren auch Kinder ihrer Zeit. Doch lebendig-gläubige Christen, die sich mit ganzem Herzen zu Jesus Christus bekennen, zeigen durch die Geschichte hindurch die gleichen Fundamente auf, die den Menschen kennzeichnen.
Die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott und die gleichzeitige Verankerung in die irdische Flora und Fauna gibt dem Menschen die gesunde Spannung. Er kann sich nicht ins Transzendente flüchten und darf doch eine echte Hoffnung ergreifen. Er darf von einer göttlichen Liebe empfangen und ist doch selbst Akteur dieser Liebe an seinen Mitmenschen. Er kann durch seine Begrenzung nicht alles erfassen und doch den Sinn seines Lebens entdecken. Das biblisch-theistische Menschenbild ist kongruent zur Lebenserfahrung des Menschen. Der wahre Humanismus entsteht nur in einem unveränderlichen Wert des Menschen – ein Wert, den nur Gott auf Zeit und Ewigkeit festlegen kann.
Quellen:
1 Sartre, Jean-Paul: Der Existenzialismus ist ein Humanismus; Rowohlt; Hamburg 2019; S. 116
2 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra; OPU; 2017; Pos. 220
3 Wagner, Hermann: Der Mensch als Tier – die biologische Perspektive in: Der Mensch – ein Tier. Und sonst?; Herder; Freiburg m Breisgau 2020; S. 46
4 Ebd., S. 65
5 Vgl. hierzu Nagel, Thomas: Geist und Kosmos; Suhrkamp; Berlin 2019; S. 55ff
6 Blackmore, Susan: There is no stream of consciousness; www.susanblackmore.uk/articles/there-is-no-stream-of-consciousness/ (übersetzt)