Salafisten sind die neuen Punks

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Simon Garrecht
veröffentlicht am 31.7.2024

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Wer heute auf seinem Smartphone Apps wie Instagram oder TikTok öffnet, bekommt dort je nach Algorithmus innerhalb kürzester Zeit die unterschiedlichsten Weltanschauungen präsentiert. Die Spannbreite ist dabei ziemlich breit. Angehörige verschiedener Religionen, Esoteriker, „Wokies“, Rechtskonservative, hedonistische Lebemenschen und viele andere buhlen auf dem öffentlichen Marktplatz der Lebensentwürfe und Überzeugungen um ihre Aufmerksamkeit.
Maike, die gestern noch Maik war. Andrew Tate, der sich als Retter der Männlichkeit versteht und in selbstbewusster Manier frauenverachtende Sprüche klopft. Politisch links orientierte Deutsche, die „Deutschland Verrecke“ Plakate in die Luft strecken und in geschlechtersensibler Sprache der AFD Rassismus vorwerfen. AFD Mitglieder mit Migrationshintergrund, die in Ausländerdeutsch den Untergang des Abendlandes heraufbeschwören. 
Und auch im religiösen Bereich sieht es nicht anders aus. Da haben wir Bio-Deutsche, die zum Islam konvertiert sind und jetzt vollverschleiert vor der Kamera sitzen und gegen das Christentum schießen. Da gibt es die Megachurches mit modernen Formen und die Hardliner Konservativen, die allem und jedem, den Glauben absprechen, der nicht bei zwei auf den Bäumen ist. Es gibt solche, die es sich auf Mission für ihre jeweilige „eine wahre apostolische Kirche“ sind und es sich dafür zur Aufgabe gemacht haben, gegen den Protestantismus zu argumentieren. Und es gibt religiöse Würdenträger, die Gott als Mutter oder G*tt bezeichnen, polyamoröse Beziehungen segnen und der Meinung  sind, dass Jesus nicht wirklich auferstanden sei. 
Mal im Ernst: Wer soll in diesem Dschungel noch durchblicken?
Für manche ist diese weltanschauliche Vielfalt der Einstieg in eine Haltung des Agnostizismus. Wenn es so viele verschiedene Konzepte zu leben und zu glauben gibt und sich alle untereinander widersprechen - wie kann man dann überhaupt zu der Wahrheit finden? Für andere hingegen ist dieser Zustand ermüdend, beängstigend und verunsichernd. Sie sehnen sich nach Klarheit und Orientierung. Nach jemandem, der ihnen sagt, was wahr und wie die Bibel wirklich zu verstehen ist. Und das wiederum führt zu einem Wiedererstarken fundamentalistischer Strömungen und bedenklicher Sekten. Diese Beobachtung zumindest macht Sarah Pohl. Die promovierte Erziehungswissenschaftlerin leitet die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg. In ihrer Beratungsstelle beobachten sie vor allem bei jungen Menschen eine Offenheit dafür, sich religiösen Hochkontrollgruppen oder der islamischen Religion zuzuwenden. Gegenüber dem christlichen Online-Magazin Corrigenda stellt sie dabei folgende These auf:

„Wir beobachten, dass das offensichtlich bei jungen Menschen verstärkt ein Thema ist. Unsere Theorie ist, dass es mit Orientierung zusammenhängt, mit Gemeinschaftsgefühl, das in islamischen und anderen gläubigen Communitys vielleicht stärker vorhanden ist“

(Sutter 2024)

Die islamischen Communitys, die sie hier anspricht, werden wohl eher nicht den Wunschvorstellungen entsprechen, wie man sie sich in den Elfenbeintürmen deutscher Universitäten macht. Vorbilder, an denen sich junge Konvertiten orientieren, sind wohl eher nicht liberale Muslime wie Ahmad Mansour, sondern Salafisten wie Abul Bara, Sheikh Ibrahim oder Pierre Vogel. Deren Präge- und Anziehungskraft ist um ein Vielfaches stärker, als vielen bewusst oder lieb ist. Viele hängen an ihren Lippen, wenn sie die Scharia-Gebote auf den Alltag unterbrechen, die genau vorgeben, wie man sich kleiden, ernähren, verhalten, ja sogar auf die Toilette gehen soll. Was den einen albern erscheint, gibt anderen ein Gefühl von Sicherheit. Doch mehr als das:

Salafisten sind dabei die neuen Punker.

In früheren Zeiten konnten pubertierende Teenager ihre Eltern und die Gesellschaft provozieren, indem sie sich tätowiert ließen, Irokesenfrisuren trugen, oder sich aufreizend kleideten. Doch diese Zeiten sind vorbei. Man kann (je nachdem wo man lebt) fast nichts mehr machen, dass die Umgebung wirklich schockt. Was allerdings wirklich den Flavour von Rebellion in sich birgt und Blicke auf sich zieht, ist eine Konversion zum Islam. Wer mit einer Burka durch die Fußgängerzone geht, kann sich sicher sein auf Reaktionen und sich umdrehende oder schüttelnde Köpfe zu stoßen. 

Die verstärkte „Suche nach Orientierung“ geht für Sarah Pohl einher mit einer „stärkere[n] Sinnsuche“ (2024). Ihre Einschätzungen entsprechen auch den Analysen des Theologen und Philosophen Heinzpeter Hempelmann, der die attraktive Anziehungskraft fundamentalistischer Gruppen und Sekten in der Überforderung vieler Menschen mit der postmodernen Wirklichkeit einer unübersichtlichen Auswahl von Angeboten verortet (Hempelmann 2009:59). Er versteht den selbstgewählten Verzicht auf rationales und kritisches Denken, wie es in sektiererischen und fundamentalistischen Strömungen geschieht, als Gegenreaktion auf einen postmodernen Horizontverlust (:59). Das von Pohl angesprochene Gemeinschaftsgefühl solcher Gruppen, wird laut Hempelmann durch mentale Unterstützung verstärkt, die man durch die Einheitlichkeit der Überzeugungen verstärkt (:59). 

Das ist bei konservativen islamischen Gruppen der Fall, aber auch bei neu religiösen Bewegungen oder Sekten. Die Shincheonji Gemeinschaft etwa wählt die Einheitlichkeit der Überzeugungen, sogar als einen bewusst gewählten Weg der Mission. In einer internen Schulung ihres Standortes in Frankfurt wurde den Mitgliedern beigebracht, in Gesprächen mit gläubigen Christen auf die vielen verschiedenen christlichen Richtungen hinzuweisen und zu fragen, wie das denn sein kann, wenn die Wahrheit Gottes nur eine ist. Sich dann als die Gruppe hinzustellen, die im Alleinbesitz dieser Wahrheit ist, ist dann im nächsten Schritt der Weg, wie man verunsicherte und überforderte Menschen catchen kann. Das ist sowohl in theologischen als auch ethischen Fragen ein für Viele geradezu verlockend einfacher Weg. Man muss nicht mehr mit Spannungen und unterschiedlichen Ansichten leben und seinen Fokus auf die zentralen Eckpfeiler des christlichen Glaubens richten. Stattdessen kann man einer Glaubensgemeinschaft angehören, bei der man sich der (illusorischen) Sicherheit hingeben kann, dass alle Glaubensüberzeugungen direkt von Gott an den Leiter(-kreis) an der Spitze weitergegeben wurden.

Es ist geradezu verlockend einfach, sich von einer religiösen Autorität bis ins Hundertstel und Tausendstel das ganze Leben vor Diktieren zu lassen, wie es etwa in Sekten und einem konservativen Islam geschieht. Doch, zu welchem Preis? So eine Art von Glauben ist letztlich nur eine Flucht vor der eigenen Unsicherheit und führt daher auch bei christlichen Sekten nicht zu einer befreiten christlichen Leben in der Gegenwart Gottes, sondern vielmehr zu einem dauerhaften Zustand der Unmündigkeit. Aus diesem mentalen Gefängnis brechen daher nicht wenige dadurch aus, indem sie sich enttäuscht vom Glauben ab und dem Atheismus zuwenden.

Dem Wir-Gefühl gegenüberstehen in religiösen Hochkontrollgruppen dabei gleichzeitig Sanktionen bis hin zum Ausschluss, wie es etwa auch an der bereits genannten Shincheonji Gruppierung sichtbar wird. Viele Beispiele ließen sich dafür aufzeigen, eines davon erlebten im April 2022 mehrere Aussteiger der Shincheonji Gemeinde Frankfurt. Sie wurden mit der Begründung „von Lehrern der Widersacher verführt worden“ zu sein und beschlossen haben „Shincheonji zu verlassen“ unter Kontaktverbot gestellt und von der Gruppe ausgeschlossen (Apologetik Projekt 2023).  Aus einer anfänglich empfundenen Sicherheit wird also ganz schnell ein bitterböser Ausschluss, bei dem nicht selten noch dem nachgetreten wird, sollte man, von den angeblich von Gott direkt an die Sekte geoffenbarten Lehren, nicht mehr glauben können. Das ist auch eine der Erklärungen, warum Menschen oftmals lange Teil solcher Gruppen bleiben: Der Preis, den sie bezahlen müssen, wenn sie diese verlassen, ist sehr hoch. 

Wie gehen wir als Christen also mit dieser Sehnsucht nach zweifelloser Klarheit um? 

Sollten wir selbst alle fundamentalistischer werden, um unsichere und Orientierung suchende Menschen besser auffangen zu können? Sollten wir christliche Gelehrte ausbilden, die auf jede praktische und theologische Frage eine Schwarz-Weiß-Antwort parat haben? Eine biblisch-theologische Auseinandersetzung mit dem Konzept von Mündigkeit und Reife im eigenen Glaubensleben macht deutlich, dass ein apologetischer Anknüpfungspunkt, nicht darin liegen kann, dem Wunsch nach einer selbstgewählten Unmündigkeit nachzukommen.  So rügt etwa der Autor des Hebräerbriefes seine Leser dafür, dass sie ihre Glaubensüberzeugungen nicht selbst durchdrungen zu haben und darum auch nicht in der Lage sind, andere in diesen zu belehren:

11 Darüber haben wir noch viel zu sagen; allerdings wird es schwierig sein, euch diese Dinge zu erklären, weil ihr in letzter Zeit so wenig Interesse daran zeigt; es ist geradezu, als wärt ihr schwerhörig geworden. 12 Eigentlich müsstet ihr längst in der Lage sein, andere zu unterrichten; stattdessen braucht ihr selbst wieder jemand, der euch die grundlegenden Wahrheiten der Botschaft Gottes lehrt. Ihr habt sozusagen wieder Milch nötig statt fester Nahrung. 13 Wer nur Milch verträgt, ist ein Kind und hat noch nicht die nötige Erfahrung, um sein Leben so zu gestalten, wie es nach Gottes Wort richtig ist. 14 Feste Nahrung hingegen ist für Erwachsene, für reife Menschen also, deren Urteilsfähigkeit aufgrund ihrer Erfahrung so geschult ist, dass sie imstande sind, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.

Hebräer 5:11-14 NGÜ

 Es gibt grundlegende Wahrheiten der Botschaft Gottes, die in jeder Kirche gleich gepredigt werden sollten. Wahrheiten über das Wesen Gottes, die von so zentraler Natur sind, dass an ihnen letztlich unser ewiges Leben hängt. Und es gibt weniger grundlegende biblische Wahrheiten, die nicht weniger wahr sind, aber bei denen es nicht so große Konsequenzen hat, wenn wir sie nicht richtig einordnen können. Deswegen ist es okay, damit leben zu können, sich in manchen Punkten zu irren. Der Apostel Paulus schreibt selbst, dass wir nur einen Teil der göttlichen Wirklichkeit erkennen (1. Kor 13,13).

Dort, wo Menschen sich durch die postmoderne Vielfalt an Sinn-Angeboten überfordert fühlen, kann und darf der Anknüpfungspunkt also nicht darin liegen, einfache Antworten auf alle Glaubens- und Lebensfragen zu geben. Wer seinen Verstand und seinen Willen an eine bestimmte Institution oder einen selbsternannten Endzeithirten überschreiben möchte, ist bei dem christlichen Glauben falsch aufgehoben. Wer nicht den einfachen Weg gehen, sondern einen mündigen und selbst durchdachten Glauben erleben möchte, wird genau dies bei Jesus finden.

In dieser empfundenen Überforderung mit der postmodernen Vielfalt liegt eine echte Chance, christliche Glaubensüberzeugungen an Menschen heranzutragen, die nach Sicherheit, Klarheit und Orientierung suchen. Ihnen diese zu vermitteln, ohne sie dabei in fundamentalistischer Manier vom eigenständigen Denken abzuhalten, muss dabei unsere Aufgabe sein.

Jesu klarer Wahrheitsanspruch und christliche Glaubensüberzeugungen, die seit Jahrtausenden in der Bibel erkannt und gepredigt werden, erscheinen vielen zu eng und fundamentalistisch. Andere wiederum, darunter die in diesem Artikel angesprochenen Menschengruppen, finden hier genau die Antworten und den Halt, den sie leider oft an den falschen Adressen suchen. 

Quellen

Apologetik Projekt. (26.03.2023). Einmal Shincheonji und zurück - eine Berufene packt aus. [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=RY8-KOQauiw&t=8062s  

Hempelmann, Heinzpeter (2009). Nach der Zeit des Christentums: Warum Kirche von der Postmoderne profitieren kann und Konkurrenz das Geschäft belebt. Gießen: Brunnen Verlag.

Sutter, Emmanuela (2024). Islamische Influencerinnen: Der Instagram-Islam auf Eroberungsfeldzug. [Online] https://www.corrigenda.online/trend/der-instagram-islam-auf-eroberungsfeldzug?fbclid=IwZXh0bgNhZW0CMTEAAR206vjB55W90sOIxDS8tSWOUVVf1sJp1TF9serPwnyvO6SKWHLUchW-lmM_aem_ZmFrZWR1bW15MTZieXRlcw [Abrufdatum 2024-06-14].