Mythen über das Christentum (2/2)
Daniel Ambraß
veröffentlicht am 15.12.2024
War Jesus mit Maria Magdalena verheiratet?
Noch hartnäckiger als die im ersten Teil genannten Theorien ist die Legende, Jesus habe mit Maria Magdalena eine Ehe geführt und somit eine Blutlinie begründet, die später in Europa Spuren hinterlassen habe. Diese Idee, die Brown in "Sakrileg" geschickt mit mysteriösen Hinweisen verknüpft, wirkt auf den ersten Blick aufregend. Doch betrachtet man die historische Realität, fällt diese Erzählung in sich zusammen. Weder im Neuen Testament noch in den frühen außerkirchlichen Quellen gibt es einen Hinweis darauf, dass Jesus verheiratet war.1 Die Rolle Marias aus Magdala ist im biblischen Zeugnis klar umrissen: Sie war Jüngerin Jesu, Zeugin seiner Kreuzigung und Auferstehung und eine wichtige Figur der ersten Christengemeinde. Nirgendwo deutet sich an, dass sie Jesu Ehefrau gewesen wäre. Die frühen Christen, die ihre Überzeugungen oft unter Verfolgung und Lebensgefahr weitergaben, hatten weder Anlass noch Möglichkeit, einen so zentralen Punkt wie den Familienstand des Herrn zu verschweigen. Wer behauptet, diese Ehe sei verschleiert worden, muss erklären, warum in der Vielzahl der antiken Quellen, Fragmenten, Kommentaren und Briefe, die teilweise ganz andere theologische Streitigkeiten offenbaren, gerade diese besonders brisante Information komplett unterdrückt geblieben sein soll. Die einfachste Erklärung ist und bleibt, dass Jesus nicht verheiratet war und dass diese spekulative Behauptung neuzeitlicher Fantasie entspringt, nicht historischer Faktizität.
Das Weibliche im Christentum - ein unterdrücktes Erbe?
Das vierte und eng mit den vorherigen Punkten verwobene Missverständnis ist die Idee, dass die Kirche – insbesondere die katholische, aber stellvertretend oft jede Form des traditionellen Christentums – Frauen bewusst aus einer Führungsrolle verdrängt und die sogenannte "Heilige Weiblichkeit" unterdrückt hätte. Brown zeichnet ein Bild eines primitiven, reinen Christentums, in dem das Weibliche geehrt und angebetet worden sei, bevor eine von machtgierigen Männern geprägte Kirche dies unterband. Das Problem dabei ist, dass diese Idee weniger mit den historischen Quellen übereinstimmt, als vielmehr mit einer modernen Projektion von Geschlechterkonflikten in die Vergangenheit. Das frühe Christentum, erkennbar in den biblischen Dokumenten, war im Vergleich zu seiner heidnisch-römischen Umwelt für Frauen eher befreiend als unterdrückend. Zwar gab es eine klare Rollenverteilung, aber Frauen hatten nicht selten führende Funktionen in den Gemeinden, waren Patroninnen, Diakoninnen und Förderinnen der Mission.2 Maria Magdalena selbst ist in den Evangelien und der apostolischen Tradition hoch geschätzt. Das Bild von einer einst ausgeprägten "Heiligen Weiblichkeit", die später verschwunden sei, findet sich nicht in den tatsächlichen Quellen des Urchristentums. Dies ist ein moderner Mythos, den Brown geschickt in ein Geflecht aus Kunstgeschichte, Geheimbünden und verschlüsselten Hinweisen einbettet, der aber der historischen Wahrheit nicht standhält. Die Verehrung weiblicher Gottheiten war im paganen Kontext verbreitet, doch das Judentum und das Christentum stehen mit ihrem monotheistischen Bekenntnis in deutlichem Kontrast dazu. Christliche Frauen wurden nicht zum Schweigen verdammt, sondern waren wichtige Mitglieder der ersten Gemeinden, die den Glauben weitertrugen. Ihre Rolle ist theologisch kein übersehener Rest einer vormals matriarchalen Spiritualität, sondern eine von Anfang an anerkannte, wenn auch in den geschichtlichen Entwicklungen stets neu zu bewertende Aufgabe.
Das Evangelium braucht keine Verschleierung, es ist in den Wurzeln der Geschichte verankert.
Natürlich darf ein Thrillerautor mit fiktiven Elementen spielen. Doch es ist kritisch zu sehen, wenn Literatur als Geschichtsquelle missverstanden wird. Wenn daraus ein Narrativ entsteht, in dem die christlichen Ursprünge misstrauisch beäugt werden, weil angeblich politische Machthaber oder dogmatische Kirchenmänner ganze Wahrheiten unterschlagen haben, erliegt man einem weitverbreiteten Missverständnis. Die kirchliche Tradition, die Kanonisierung der Bibel, die Bewahrung des apostolischen Zeugnisses und die Rolle von Frauen im frühen Christentum sind Themen, die in der seriösen Fachforschung anders bewertet werden, als es Brown uns glauben machen will.
Wer sich eingehend mit der Geschichte befasst, wird feststellen, dass der Glaube an Jesu Göttlichkeit tief in den ältesten Zeugnissen wurzelt, dass die Zusammenstellung der biblischen Bücher ein langfristiger Prozess war, der auf authentischen Quellen und weiten Konsensen basierte, dass gnostische Evangelien keinen "verbotenen Schatz" darstellen, sondern spätere, theologisch problematische Interpretationen sind, dass es keine Ehe Jesu mit Maria Magdalena gab und dass Frauen im frühen Christentum eine beachtliche Rolle spielten, ohne dass dafür eine geheime Matriarchatsreligion unterdrückt werden musste. Hank Hanegraaff und Paul L. Maier haben in ihrem kritischen Werk zu Browns "Sakrileg" viele dieser Punkte klar herausgearbeitet und zeigen, dass historische Forschung und gläubige Überzeugung hier Hand in Hand gehen können. Die Integrität der Bibel als historisch ernstzunehmendes Dokument ist nicht nur ein Postulat von Frommen, sondern wird von zahlreichen Wissenschaftlern bestätigt, die, unabhängig von religiösen Vorlieben, den Wert der biblischen Texte als Quellenwerk anerkennen.
Mögen Dan Browns Werke spannende Thriller sein, so bleibt doch festzuhalten, dass sie, was die Geschichte des Christentums betrifft, auf wackeligem Fundament stehen. Nur wer sich von historischer Forschung und gut begründeter Theologie leiten lässt, wird fähig sein, Wahrheit von Fiktion zu unterscheiden. Das Evangelium braucht keine Verschleierung, es ist in den Wurzeln der Geschichte verankert. Und wer es ernsthaft prüft, wird feststellen, dass jene Mythen, die sich um das Christentum ranken, nicht dessen wahre Natur widerspiegeln, sondern lediglich literarische Fantasieprodukte sind.
Abschließender Gedanke
Gerade weil das Ringen um die historischen Hintergründe des christlichen Glaubens so vielschichtig ist, lohnt es sich, tiefer in diese Materie einzutauchen. Anstatt auf haltlose Verschwörungsnarrative hereinzufallen oder sich von modernem Halbwissen beeindrucken zu lassen, kann es geradezu Freude bereiten, die alten Texte, archäologischen Befunde, zeitgenössischen Berichte und verlässlichen wissenschaftlichen Publikationen eingehend zu studieren. Wer sich dieser Herausforderung stellt, wird eine faszinierende Welt entdecken, die nicht nur den Glauben vertieft, sondern auch das Verständnis für die Kultur und Geschichte der Antike schärft. Dadurch wird auch die christliche Apologetik umso tragfähiger, weil sie nicht auf leere Behauptungen setzt, sondern ihre Antworten auf einem soliden Fundament aus Primär- und Sekundärquellen errichtet. Dieses ernsthafte Selbststudium bringt nicht nur mehr Klarheit, sondern auch neue Begeisterung für die historische Verankerung der Bibel.
Quellen
[1]: Vgl. Richard Bauckham: Jesus and the Eyewitnesses. William B Eerdmans Publishing Co. 2017
[2]: Vgl. Rodney Stark: The Rise of Christianity. Princeton University Press 2020
[3]: Hank Hanegraaff / Paul L. Maier: Dan Browns Sakrileg (The Da Vinci Code) – eine kritische Auseinandersetzung mit dem Mega-Bestseller. R. Brockhaus Verlag, Witten, 2006, S. 112.