Mythen über das Christentum (1/2)
Daniel Ambraß
veröffentlicht am 8.12.2024
Die Bibel als historisches Werk - eine Einführung
Die Bibel ist nicht einfach nur ein spirituelles Buch, sondern ein Werk, das in seiner Entstehungsgeschichte und Überlieferungstiefe eng mit historisch nachprüfbaren Fakten verwoben ist. Wer sich wirklich ehrlich mit den Ursprüngen des Christentums befasst und die Entstehungszeit sowie die Überlieferung der biblischen Texte untersucht, wird feststellen, dass ihre Glaubwürdigkeit weit über fromme Wünsche oder bloße Legenden hinausreicht. Diese Überzeugung teilen viele namhafte Historiker, Archäologen und Theologen unterschiedlichster konfessioneller Hintergründe. Umso erstaunlicher ist es, dass gerade in jüngeren populärkulturellen Veröffentlichungen, besonders in manchen Romanen und Filmen, die Bibel als historische Quelle infrage gestellt oder verzerrt dargestellt wird. Ein bekanntes Beispiel dafür sind die Werke des Bestsellerautors Dan Brown, der in seinen Thrillern wie "Sakrileg" (im Englischen: "The Da Vinci Code"), aber auch in seinen anderen Büchern "Illuminati", "Das verlorene Symbol", "Inferno" und "Origin", Behauptungen in den Raum stellt, die nicht nur theologisch, sondern auch historisch wenig haltbar sind. Noch mehr als zwei Jahrzehnte nach Erscheinen des ersten Werks halten sich hartnäckige Mythen, die Brown damals geschickt in eine spannende Handlung eingeflochten hat. Dass manche dieser Ideen ihre Wurzeln in älteren Verschwörungstheorien und pseudohistorischen Spekulationen haben, macht die Sache nicht besser. Anstatt faktenbasierte Forschung anzuerkennen, bedienen solche Romane Vorurteile und wecken den Eindruck, die Kirchengeschichte sei ein raffiniertes Täuschungsmanöver, um unbequeme Wahrheiten zu verschleiern.
Es ist kritisch zu sehen, wenn Literatur als Geschichtsquelle missverstanden wird.
Als christliche Apologeten stehen wir vor der Herausforderung, diese irreführenden Vorstellungen mit ruhiger Stimme zu entkräften. Besonders detailliert geht etwa Hank Hanegraaff gemeinsam mit dem Historiker Paul L. Maier in ihrem Buch "Dan Browns Sakrileg (The Da Vinci Code) – eine kritische Auseinandersetzung mit dem Mega-Bestseller" auf Browns Aussagen ein. Hier wird deutlich, dass Brown sich zwar auf gewisse historische Namen, Artefakte und Schauplätze bezieht, aber deren Zusammenhänge oft so weit verzerrt, dass am Ende ein Zerrbild christlicher Geschichte entsteht. Wenn man genauer hinsieht, fallen vier gravierende und einflussreiche Fehlvorstellungen ins Auge, die Brown in seinen Romanen verbreitet und die bis heute in manchen Köpfen herumschwirren.
Konstantin und die Erfindung der Göttlichkeit Jesu?
Zunächst ist da die Annahme, Kaiser Konstantin habe im vierten Jahrhundert nicht nur den christlichen Glauben maßgeblich geprägt, sondern regelrecht "erfunden" und dabei Jesu göttliche Natur nachträglich konstruiert. In dieser Erzählung war das Christentum vor Konstantin bestenfalls ein buntes Sammelsurium widersprüchlicher Lehren, das erst durch ein politisches Machtwort des Kaisers in der sogenannten konstantinischen Wende zu einer einheitlichen Religion geformt wurde. Man müsse sich jedoch nur etwas eingehender mit den Quellen der frühen Kirchengeschichte befassen, um festzustellen, wie haltlos dies ist. Schon lange vor Konstantin bekannten sich die Christen zur Gottheit Jesu Christi. Das erste Jahrhundert nach Christus ist reich an Zeugnissen, die belegen, dass die Urgemeinde Jesus als den kyrios, den Herrn, ansah – nicht als bloßen Rabbi, sondern als den auferstandenen Sohn Gottes. Man findet diese Überzeugung nicht erst bei den großen Kirchenvätern des zweiten und dritten Jahrhunderts, sondern bereits in den ältesten neutestamentlichen Schriften wie den Briefen des Paulus und den Evangelien selbst.2 Es war nicht Konstantin, der die Bibel "zusammenstellte" oder Jesu Göttlichkeit erfand. Zwar spielte der Kaiser eine Rolle in den theologischen Debatten seiner Zeit, etwa im Konzil von Nizäa, aber dieses Konzil war nicht der Ursprung des christologischen Glaubens. Stattdessen bestätigte es nur, was die Mehrzahl der Gemeinden längst glaubte. Historische Aufarbeitung zeigt, dass die Entscheidungen der frühen Konzilien auf einem vorliegenden, bereits etablierten Kanon von Überzeugungen, Schriften und Traditionen basierten, nicht auf politischer Willkür.
Unterdrückte Schriften oder sorgfältige Kanonbildung?
In engem Zusammenhang mit dieser Fehlannahme steht ein weiterer Irrtum, der sich hartnäckig hält: Die Vorstellung, die Kirche habe im Laufe der Jahrhunderte absichtlich bestimmte Texte unterdrückt, um ein "wahres" Christentum im Verborgenen zu halten. Oft werden dabei Schriften aus dem Umfeld der Gnosis ins Spiel gebracht – Texte, die erst im zweiten oder dritten Jahrhundert nach Christus entstanden sind, wie etwa das Thomasevangelium oder andere apokryphe Schriften.3 Brown und andere suggerieren, diese Schriften seien genauso authentisch und alt wie die vier kanonischen Evangelien. Die Geschichte zeigt jedoch etwas anderes. Es ist keinesfalls so, dass die Kirche mit harter Hand offizielle "Index-Verbote" durchgesetzt hätte, um die Wahrheit zu unterdrücken. Vielmehr wurde über Generationen sorgsam geprüft, welche Schriften apostolische Herkunft haben, also tatsächlich auf Augenzeugen oder ihre direkten Schüler zurückgehen, und welche lediglich spätere Deutungen oder synkretistische Mischungen aus christlichen und fremden philosophischen Einflüssen darstellen. Die Entscheidung, welche Evangelien als maßgeblich gelten sollten, war weniger ein autokratischer Machtakt, sondern entwickelte sich über Jahrhunderte durch Übereinstimmung der Gemeinden. Die kanonischen Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes bewährten sich schon sehr früh als verlässliche Quellen des apostolischen Zeugnisses. Die gnostischen Schriften hingegen, denen Brown gerne einen geheimen Status andichtet, werden von den meisten seriösen Historikern ganz klar den späteren, eher spekulativen Interpretationen des Christentums zugerechnet, die nicht auf den Urglauben zurückgehen.4
Die Verführung durch die Gnosis
Gerade hier wird die eigentliche Gefahr der Gnosis für das Christentum deutlich. Denn wo die kanonischen Evangelien auf historische Tatsachen, apostolische Augenzeugenberichte und eine in der Gemeinschaft der ersten Christen verankerte Tradition fußen, versuchen gnostische Strömungen die Offenbarung Gottes durch ein sogenanntes "verborgenes Wissen" zu ersetzen, das nur einer elitären Minderheit zugänglich sein soll. Diese vermeintlich höhere Erkenntnis, die im Kern oft die leibliche Auferstehung Christi, seine wahre Menschwerdung und damit auch das Zentrum des christlichen Glaubens relativiert, führt unweigerlich von der biblischen Botschaft weg. Damit steht die Gnosis in krassem Gegensatz zur christlichen Verkündigung, die allen Menschen gleichermaßen das Evangelium anbietet. Der Apostel Paulus warnt bereits in 1. Timotheus 6,20–21 vor "dem so genannten Erkenntnis" (griechisch: gnōsis), das vom wahren Glauben abirren lässt. Diese Warnung ist zeitlos aktuell, denn auch heute streuen gnostische Ideen – ob in literarischen Mythen, spekulativen Lehren oder esoterischen Konzepten – Zweifel an der Glaubwürdigkeit der biblischen Quellen. Sie postulieren verborgene Wahrheiten, die angeblich hinter den einfachen und historischen Aussagen der Heiligen Schrift stünden. Doch auf diese Weise wird nicht zu einem tieferen Verständnis des Evangeliums geführt, sondern zu einer Verfälschung seiner ursprünglichen Botschaft, die stets im Fleisch gewordenen Sohn Gottes ihre Mitte hat. Wer sich von gnostischen Vorstellungen verführen lässt, stellt sich gegen den historischen Kern des Christentums, gegen jene Heilsbotschaft, die nachweislich in Raum und Zeit Gestalt annahm, und verliert so nicht nur die solide Grundlage, auf der der Glaube seit der apostolischen Zeit ruht, sondern läuft auch Gefahr, die Kraft und Verbindlichkeit des Evangeliums zu verspielen.
Quellen
[1]: Hank Hanegraaff / Paul L. Maier: Dan Browns Sakrileg (The Da Vinci Code) – eine kritische Auseinandersetzung mit dem Mega-Bestseller. R. Brockhaus Verlag, Witten, 2006, S. 54.
[2]: Vgl. Larry W. Hurtado: Lord Jesus Christ: Devotion to Jesus in Earliest Christianity. Eerdmans, Grand Rapids 2005.
[3]: Vgl. Darrell L. Bock: Die verschwiegenen Evangelien - Gnosis oder Apostolisches Christentum: Muss die Geschichte des frühen Christentums neu geschrieben werden? 2007
[4]: Vgl. N.T. Wright: The New Testament and the People of God. SPCK, London 2013.