Mehr als Materie – Eine christliche Antwort auf den Naturalismus (2/3)

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Kevin Gaa
veröffentlicht am 5.5.2025

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1. Einleitung und Rückblick auf Teil 1

In Teil 1 dieses Artikels haben wir die grundlegenden Begriffe und Voraussetzungen geklärt, die notwendig sind, um das eigentliche Argument nachvollziehen zu können. Es wurde deutlich, dass auch wissenschaftliches Denken auf nicht-empirischen, metaphysischen Annahmen beruht – etwa der Existenz von Wahrheit, Logik und einer objektiven Wirklichkeit. Naturalismus erscheint auf den ersten Blick als eine nüchterne, wissenschaftsnahe Weltsicht, erweist sich bei genauerem Hinsehen jedoch selbst als eine metaphysische Position. Und gerade weil der Naturalismus Teleologie – also eine zielgerichtete Ausrichtung unseres Denkens auf Wahrheit – ablehnt, stellt sich die Frage, ob wir unter seinen Voraussetzungen überhaupt noch vertrauenswürdig denken können.

2. Warum der Naturalismus sich selbst widerlegt

2.1 Naturalismus und die Grenzen der Erkenntnis

Wenden wir uns nun der ersten Stufe des Arguments zu. Wir haben den Naturalismus als die Auffassung definiert, dass die gesamte Wirklichkeit vollständig durch materielle Entitäten und die physikalischen Prozesse, die sie bestimmen, erschöpft ist. Naturalismus schließt außerdem die Existenz eines Gottes oder irgendeiner „höheren Macht“ aus. Ebenso gibt es unter dieser Sichtweise keine Teleologie, die etwas auf ein bestimmtes Ziel oder einen Zweck hin ausrichtet.

Wenn der Naturalismus wahr ist, dann sind unsere kognitiven Fähigkeiten das Ergebnis ungesteuerter, evolutionärer Prozesse. Das bedeutet: Unsere metaphysischen Überzeugungen über die Wirklichkeit entstehen und bestehen aufgrund von Prozessen, die nicht darauf ausgerichtet sind, Wahrheit zu erkennen. Aber warum sollte das nur für unsere metaphysischen Überzeugungen gelten – und nicht für all unsere Überzeugungen im Allgemeinen? Im Rahmen des Naturalismus gibt es keine übergeordneten Ziele oder Zwecke – also keine Teleologie –, die physikalische Prozesse auf ein bestimmtes Ziel hin ausrichten würden. Wenn wir sagen, dass die Schwerkraft „zieht“ oder das Licht „den kürzesten Weg sucht“, dann ist das eine rein metaphorische Ausdrucksweise. Physikalische Gesetze sagen den Dingen nicht, was sie tun sollen – sie beschreiben lediglich mathematisch, wie sich Dinge unter bestimmten Bedingungen verhalten. Mit anderen Worten: Sie sind deskriptiv, nicht normativ – und machen eine zielgerichtete Ordnung überflüssig. 

Die Evolution wiederum beruht auf zufälligen Mutationen, die durch natürliche Selektion weitergegeben werden. Diese Prozesse begünstigen Verhaltensweisen, die das Überleben sichern – also etwa Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Flucht oder Kampf –, nicht unbedingt das rationale Nachdenken über abstrakte Wissensbereiche wie die Metaphysik. Warum das so problematisch ist, werden wir im nächsten Abschnitt näher untersuchen.

2.2 Metaphysisches und empirisches Denken

Um zu veranschaulichen, warum unsere Fähigkeit, empirisch zu denken – also durch Beobachtung der Welt Schlussfolgerungen zu ziehen, wie es in der Wissenschaft der Fall ist – nicht automatisch auf unsere Fähigkeit übertragen werden kann, über metaphysische Fragen nachzudenken, betrachten wir folgendes Szenario: Ein Tiger nähert sich, und ein Hominide bildet die Überzeugung: „Da kommt ein Tiger.“ Die mit dieser Überzeugung verbundenen neuronalen Prozesse können ein entsprechendes Überlebensverhalten auslösen – zum Beispiel die Flucht. In diesem Fall wird eine empirische Überzeugung gebildet, die sinnvoll mit der konkreten Situation verknüpft ist. Allerdings wird die Handlung nicht unbedingt deshalb ausgeführt, weil der Inhalt der Überzeugung wahr ist – sondern schlicht wegen der neuronalen Abläufe im Gehirn. In der Praxis sieht so empirisches Denken aus: Wir stehen in direkter Rückkopplung mit der Umwelt und handeln auf Basis schneller, erfahrungsbasierter Schlussfolgerungen.

Wenn wir nun zu unseren metaphysischen Überzeugungen übergehen, sieht die Sache anders aus – denn diese Überzeugungen könnten so gut wie alles sein. Nehmen wir an, stattdessen entsteht eine Überzeugung wie: „Der mathematische Platonismus ist wahr.“ Es kann durchaus sein, dass diese Überzeugung wahr ist – doch die kognitiven Prozesse, die zu dieser Überzeugung geführt haben, stehen in keinerlei Zusammenhang mit dem Tiger. Wenn diese Überzeugung zufällig dasselbe Überlebensverhalten auslöst – z. B. weglaufen – überlebt der Hominide vielleicht trotzdem. 

Solche Überlegungen zeigen, wie begrenzt ein rein evolutionäres Modell ist, wenn es darum geht, die Verlässlichkeit unserer Überzeugungen zu erklären – insbesondere im Bereich abstrakter, nicht überlebensrelevanter Wahrheiten. Ohne eine Ausrichtung des Denkens auf Wahrheit bleibt letztlich offen, ob unsere kognitiven Prozesse überhaupt darauf ausgelegt sind, die Welt zutreffend zu erfassen – oder lediglich darauf, Verhalten zu steuern.

Aber wir würden nicht sagen, dass dieser Hominide ein verlässliches Überzeugungsbildungssystem hat. Hier wird die Spannung deutlich: Metaphysische Überzeugungen stehen in keiner direkten Verbindung zu empirischen Wahrheiten, denn es gibt keinen teleologischen Aspekt und keinen evolutiven Selektionsdruck, der speziell für die Bildung wahrer metaphysischer Überzeugungen sorgen würde – immerhin kann sowohl eine metaphysische Überzeugung als auch ihr Gegenteil wahr sein. 

Das zeigt: Wahrheit allein reicht nicht aus, damit eine Überzeugung als verlässlich gelten kann. Eine Überzeugung kann zwar wahr sein – aber für die konkrete Situation völlig irrelevant. Entscheidend ist, ob sie rational mit dem Kontext verbunden ist, aus dem sie hervorgegangen ist. Ist das nicht der Fall, können selbst wahre Überzeugungen rein zufällig entstehen – und eben nicht durch einen verlässlichen, „wahrheitsverfolgenden“ Prozess. Damit metaphysische Überzeugungen wirklich verlässlich sind, müssten sie nicht nur wahr, sondern auch angemessen mit dem Kontext verknüpft sein, der sie hervorgebracht hat.

Da es jedoch keinen Selektionsdruck für metaphysische Genauigkeit gibt, sind die kognitiven Prozesse, die solche Überzeugungen erzeugen, nicht auf Wahrheit ausgerichtet. Das bedeutet: Wir haben unter naturalistischen Voraussetzungen keinen Grund anzunehmen, dass unsere metaphysischen Überzeugungen deshalb gebildet wurden, weil sie wahr sind. Diese Diskrepanz liefert einen ernstzunehmenden Grund, am Vertrauen in die Wahrheit unserer metaphysischen Überzeugungen unter dem Naturalismus zu zweifeln – einschließlich der Überzeugung, dass der Naturalismus selbst wahr ist. Die inferenz zur besten Erklärung lautet daher: Der Naturalismus ist selbstwiderlegend.

2.3 Metaphysisches und empirisches Denken (Fortsetzung)

Betrachten wir folgendes Gedankenexperiment des Philosophen Thomas Crisp: Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der Kinder von klein auf systematisch in Mathematik, Physik, Chemie und anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen geschult werden – Disziplinen, die auf Technik, Landwirtschaft und wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet sind. Diese Kinder wachsen zu Erwachsenen heran, die über außerordentliche empirische und technische Denkfähigkeiten verfügen – geformt durch strukturierte Ausbildung und ständige Rückkopplung mit ihrer Umwelt. Gleichzeitig aber konditioniert diese Gesellschaft ihre Mitglieder aktiv dazu, metaphysisches Nachdenken zu vermeiden. Fragen nach dem Wesen des Bewusstseins, der Existenz Gottes oder den Grundlagen der Logik gelten als nutzlos – oder sind sogar gesellschaftlich tabu. Mit der Zeit wird diese Gesellschaft außergewöhnlich fähig darin, die physische Welt zu analysieren und zu gestalten – bleibt jedoch metaphysisch naiv oder neigt zu spekulativen, nicht geprüften Annahmen.

Diese Analogie bringt eine zentrale Einsicht auf den Punkt: Erfolg im empirischen Bereich bedeutet nicht automatisch Verlässlichkeit im metaphysischen Denken. In empirischen Zusammenhängen werden Überzeugungen an beobachtbaren Konsequenzen gemessen.

Fehlerhafte Ingenieurspläne stürzen ein, schlechte Anbaumethoden führen zu Missernten.

Das erzeugt eine Art Rückkopplungsschleife, in der falsche Überzeugungen durch die Realität „aussortiert“ werden. Im Gegensatz dazu fehlt bei metaphysischen Überzeugungen jedes Korrektiv. Ob jemand glaubt, dass der Naturalismus wahr ist oder dass der freie Wille eine Illusion ist – diese Überzeugungen haben keine messbaren Auswirkungen auf das Überleben. Die Evolution bietet keinen Mechanismus, um metaphysische Wahrheiten zu erfassen oder zu überprüfen. Wie Crisp anhand dieser Analogie argumentiert: Die kognitiven Fähigkeiten, die auf empirischen Erfolg abzielen, wurden nicht dafür ausgewählt, abstrakte Wahrheiten zu erkennen. Daher stehen metaphysische Überzeugungen, die unter solchen Bedingungen entstehen, in keinem Zusammenhang mit dem Überleben der betreffenden Gesellschaft – sie können wahr oder falsch sein, aber wir hätten keine Möglichkeit, das zu erkennen, weil die kognitiven Prozesse, die sie hervorbringen, nicht auf Wahrheit in diesem Bereich ausgerichtet sind.1

Die weiterreichende Implikation ist für den Naturalismus verheerend: Wenn unsere kognitiven Fähigkeiten ausschließlich durch evolutionäre Prozesse geformt wurden, die auf anpassungsförderndes Verhalten ausgerichtet sind – und wenn metaphysische Überzeugungen keine Rolle für das Überleben oder die Reproduktionsfähigkeit spielen –, dann haben wir keinen Grund, diese Überzeugungen als verlässlich anzusehen. Und das gilt auch für die Überzeugung, dass der Naturalismus selbst wahr ist. Der Naturalismus als metaphysische Position wird damit erkenntnistheoretisch selbstwiderlegend: Er liefert eine Erklärung für den Ursprung unseres Denkens, die gerade die Rationalität untergräbt, die nötig wäre, um ihn als wahr zu erkennen. Die Analogie zeigt: Das Fehlen von Schulung, Rückkopplung und Teleologie im metaphysischen Denken entspricht strukturell genau jener Gesellschaft – eine Gesellschaft, die im empirischen Bereich brilliert, aber im metaphysischen blind ist. Die inferenz zur besten Erklärung lautet daher nicht, dass der Naturalismus die Verlässlichkeit aller unserer Überzeugungen sichert – sondern dass er die Rechtfertigung gerade jener Überzeugungen untergräbt, auf denen sein eigener Anspruch beruht: nämlich dass der Naturalismus wahr ist. Unter dem Naturalismus ist der Glaube an den Naturalismus selbst unbegründet.

3. Fazit

Wenn wir betrachten, wie metaphysische Überzeugungen entstehen, wird deutlich: Unter dem Naturalismus werden sie grundlegend untergraben. Der Naturalismus erklärt unsere kognitiven Fähigkeiten als Produkt blinder, evolutionärer Prozesse, die allein auf Überleben und Fortpflanzung ausgerichtet sind – nicht darauf, die letztgültige Natur der Wirklichkeit zu erkennen. Das bedeutet: Während unsere empirischen Überzeugungen durch ständige Rückkopplung mit der Umwelt geschärft werden, fehlt ein solcher Mechanismus bei metaphysischen Überzeugungen – also jenen, die sich auf das Wesen der Existenz selbst beziehen. Ohne ein teleologisches Ziel, das unseren Verstand auf Wahrheit in diesen abstrakten Bereichen ausrichtet, sind die Prozesse, die metaphysische Überzeugungen hervorbringen, ebenso wahrscheinlich fehlerhaft wie zutreffend. 

 

Wenden wir nun den Schluss auf die beste Erklärung an, so ergibt sich: Der Naturalismus ist selbstwiderlegend. Wenn unsere metaphysischen Überzeugungen – einschließlich der Überzeugung, dass der Naturalismus wahr ist – lediglich zufällige Nebenprodukte von Mechanismen sind, die einzig auf Anpassung und Überleben zielen, dann haben wir keinen verlässlichen Grund, ihnen zu trauen. In diesem Licht wird deutlich: Der Naturalismus kann seine eigenen metaphysischen Behauptungen nicht rechtfertigen, ohne dabei zugleich die rationale Grundlage für deren Annahme zu untergraben. Der Schluss auf die beste Erklärung lautet daher: Der Naturalismus zerstört – durch sein eigenes Verständnis von Kognition – die Verlässlichkeit unseres abstrakten Denkens und scheitert damit letztlich an sich selbst als kohärentes und glaubwürdiges Weltbild. Vielleicht zeigt gerade diese Spannung, dass unser Denken auf mehr ausgerichtet ist, als bloßes Überleben erklären kann. Der Wunsch nach Wahrheit, Sinn und Erkenntnis lässt sich nur schwer als evolutionärer Zufall begreifen. Eine Welt, in der Vernunft und Wahrheit aus einem tieferen Ursprung hervorgehen – etwa aus einem vernünftigen Gott –, macht es plausibler, dass unsere kognitiven Fähigkeiten tatsächlich auf Wahrheit hin ausgerichtet sind. Eine solche Wirklichkeit reicht weiter als das, was im Rahmen des Naturalismus denkbar ist. Im dritten Teil dieses Artikels gehen wir auf mögliche Einwände gegen das Argument ein und zeigen, warum sie nicht ausreichen, um dessen Gültigkeit in Frage zu stellen.

1Thomas M. Crisp, “On Naturalistic Metaphysics,” in The Blackwell Companion to Naturalism, ed. Kelly James Clark (Hoboken, NJ: Wiley-Blackwell, 2016), 67–72.