Jenseits von Beweisen

Rolf Marcel Fischer
veröffentlicht am 20.8.2025

Dieser Artikel hinterfragt die Wirkung klassischer Gottesbeweise und schlägt zusätzlich eine phänomenologische Herangehensweise vor, bei der die Frage nach dem „Wie“ und „Wo“ göttlicher Erfahrung im Alltag im Mittelpunkt steht. Er identifiziert vier Dimensionen, in denen sich das Transzendente zeigen kann: das numinose Staunen, das Aufbrechen des Sakralen, das Gefühl grundsätzlicher Abhängigkeit und die Begegnung höchster Werte. Zugleich werden gängige Einwände wie Naturalismus und Psychologisierung adressiert. Abschließend gibt der Autor praktische Empfehlungen, wie Apologeten phänomenologisch arbeiten und Gespräche auf Augenhöhe führen können.
Gott ist kein Gedanke, den man erdenkt, sondern ein Erlebnis, das einen ergreift.
Viele Apologeten kennen das – vielleicht auch du: Sie haben sich durch Thomas von Aquin gearbeitet, Kants „Kritik“ studiert, die Kalam-Argumente geprüft und den ontologischen Gottesbeweis ausdiskutiert, Bücher über Bücher gelesen, Argumente und Gegenargumente studiert, sich in Rhetorik geübt – und doch: Im Gespräch mit heutigen Menschen fruchten all diese Argumente oft nicht. Warum? Ist es allein, weil sie die Wahrheit bereits kennen und diese einfach nicht hören wollen? Ist es, weil ihr Herz verschlossen ist und die Wahrheit nur durch den Geist erschlossen werden kann? Ja und nein. Sehr wahrscheinlich liegt der Grund sowohl auf der geistlichen als auch auf der historisch-sozialen Ebene.
Warum also können so viele mit den Argumenten für Gott nichts anfangen? Eine These: Sie können es nicht, weil sie – wie so viele – in einer Gesellschaft leben, die nach Kant, Hume und Nietzsche geprägt ist und von diesem Denken tief durchdrungen wurde. Sie wollen (und können?) nicht mehr über das „Ob“ Gottes diskutieren, sondern über das „Wo“ und „Wie“. Was meine ich damit? In einer Welt, die als post-metaphysisch bezeichnet wird, greifen analytisch-deduktive Beweise oft nicht mehr. Ihre Prämissen oder ihre Bedingungen zur Möglichkeit werden schlichtweg abgelehnt. Was also tun? Für manche Menschen in der Postmoderne braucht es etwas anderes: etwas, das viel weniger konkret, für manch einen weniger handfest, für andere aber bedeutender ist – existenzielle Spuren.
Wie das? Argumente akzeptieren sie nicht – aber „Spuren“? Ist das nicht irrational? Ja und nein, denn Menschen sind mehr als reine Vernunft und Wille, und Entscheidungen werden nicht allein dadurch begründet. Wenn sie den klassischen Ansatz nicht verstehen oder dessen Wirkung ablehnen, braucht es vielleicht eine andere Perspektive. Es geht mir nicht darum, diesen Menschen und den dahinterstehenden Philosophien und Axiomen ungefragt zuzustimmen. Ich habe eindeutig zu viele Artikel auf diesem Blog über die klassischen Argumente für Gott veröffentlicht, um dies zu tun. Hier geht es nicht um erkenntnistheoretische Axiomatik, sondern um lebensweltlichen Realismus.
Die Argumente zählen bei manchen nicht mehr; der Versuch, sie zu formulieren, gilt als aussichtslos und Apologetik als sentimentales Anhängen an die Vergangenheit. Bei den meisten Menschen ist dies auch keine böse Absicht. Sie sind einfach so tief von diesen Denkern geprägt, dass eine andere Möglichkeit zu denken für sie unmöglich erscheint. Was tut man dann? Aufhören zu sprechen? Jene fern jeder Rettung deklarieren und sich freiheraus abwenden? Sie endlos über die Fehler in den Axiomen und Prämissen einer A-Metaphysik aufklären, bis sie es endlich einsehen? Vielleicht schadet es manchmal nicht, dem Gegenüber einen Schritt entgegenzukommen und zu schauen, was und wo im Leben des anderen vorhanden ist, das die Wirklichkeit Gottes widerspiegelt.
Diese Lebensphänomene und -deutungen mögen keiner strengen Deduktion und Analyse standhalten, könnten den einen oder anderen aber mehr überzeugen als Diskussionen über Metaphysik und Erkenntnistheorie.
Dieser Artikel will einen solchen Versuch wagen und eine „Apologetik“ jenseits des deduktiven Beweisens skizzieren: eine Apologetik der Erfahrung, der Ahnungen und des gelebten Glaubens. Eine Apologetik für jene, die spüren, dass der Glaube nicht zwingend Gewissheit bieten muss – aber auch nicht bloß Gefühl sein darf. Eine Apologetik für all jene, die nicht mit, aber auch nicht ohne Argumente für Gott leben und glauben können.
Dazu will ich erst das Problem schildern und dann aus verschiedenen Perspektiven Leuchtfeuer der Theophanien des Alltags entzünden – nicht anhand eigener Ideen, sondern anhand großer Denker des letzten Jahrhunderts, die helfen können, eine Spurensuche nach Gott im Leben eines Suchenden zu beginnen und vielleicht sogar neu im eigenen Leben fündig zu werden.
Warum klassische Gottesbeweise oft scheitern
1. Kants Grenzen der Vernunft
Spätestens seit der Aufklärung und Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ gilt es als gemeinhin offensichtlich: Gottes Existenz ist keine Sache der reinen Vernunft. Das „Summum Bonum“ (das höchste Gut – Gott) mag ethisch sinnvoll sein – aber logisch beweisbar ist es nicht. Die Vernunft könne Gott nicht erkennen. Es liegt jenseits ihrer Möglichkeit, Gottes Existenz aus sich selbst zu erschließen. Kant sieht „Gott“ mehr als eine Art Notwendigkeit, die einfach angenommen werden muss, damit Moral legitimiert werden und Gesellschaft funktionieren kann. Aber das allein ist kein Indiz für die Existenz Gottes – oder doch?
Dass etwas Moralisches ‚sein muss‘ ... empfinden nicht alle Menschen als zwingenden Beleg für eine göttliche Intention.
Er selbst sieht es offensichtlich auch so. Heute ist das nicht anders: Wer heute argumentiert, Gott müsse existieren, weil sonst die Moral ins Wanken gerät, wird oft schlicht nicht verstanden – oder verdächtigt, sich einen nützlichen Gott zu basteln. An etwas zu glauben, weil es nützlich ist, ist eben kein Argument – vor allem nicht für Gott. So könne alles und damit nichts „bewiesen“ werden. Doch auch Kant, selbst ein glaubender Mann, war sich bewusst, dass es wenigstens ein Indiz, einen rationalen Grund braucht, an Gott zu glauben. Ohne diesen verkommt der Glaube an Gott zu einem Märchen, das zwar nützlich, aber ohne jeden rationalen Grund ist.
Wie also den Glauben vor der Vernunft rechtfertigen, wenn Gott nicht erkennbar zu sein scheint? Für ihn war der Glaube nützlich, konnte aber lediglich postuliert werden. Es sei hier erinnert: Es geht nicht darum, ob man Kants Analyse recht geben will. Es geht allein um die Tatsache, dass seine Erkenntnis mittlerweile Allgemeingut geworden ist: Gottes Existenz sei unbeweisbar – und das sei auch gut so!1
In dem Wissen, dass es mehr braucht als leere Annahmen, haben sich verschiedene Denker der sogenannten „liberalen“2 Theologie aufgemacht, das Leben nach Spuren Gottes abzusuchen, die auch ohne Deduktion auskommen, aber nicht einfach dem reinen Pragmatismus entspringen.
2. Ein erster Versuch: Der narrative Zugang
Ein Zugang zum Glauben, eine Form der Verkündigung, nennt sich der narrative Zugang (z. B. bei Hans Frei, George Lindbeck). Was meint das? Die biblischen Geschichten werden dabei in gewisser Hinsicht zu einem Mythos gemacht – etwas dem Historischen und Beweisbaren Entzogenes. In einem Mythos ist die Frage, ob er auf Tatsächlichkeit beruht, sinnlos. Das Evangelium wird dann zu einem existenziellen Narrativ, das die Seele berühren und zu gewandeltem Handeln bringen soll.
Das Ausklammern der ambivalenten und schwierigen Frage nach Wahrheit und Historizität geschieht absichtlich. Diese Debatten berühren nicht die Seele und seien – so der Ansatz – für das Eigentliche des Narrativs unerheblich. Dieser Ansatz hat seine Stärken, aber auch seine Grenzen. Nicht jeder kann in biblische Geschichten hineingezogen werden, wenn er ihnen kulturell und innerlich fremd geblieben ist. Er geht romantisch davon aus, dass die biblischen Geschichten in sich selbstevident wären. Doch das sind sie offensichtlich nicht, sonst bräuchte es keine Prediger und keine Theologen. Allein die kulturelle Distanz macht es gelegentlich schwierig, den eigentlichen Aussagen der Geschichten auf den Grund zu kommen.
Abgesehen davon ist der Clou der biblischen Geschichten – nicht immer, aber oft – eben dieser: Es geht um das Handeln Gottes in der Zeit. Ja, viele biblische Geschichten sind entweder gar nicht historisch (im Sinne von erzählten und gedeuteten tatsächlichen Ereignissen) oder lehnen sich lediglich an historische Tatsachen an. Die Bibel ist kein modernes Geschichtsbuch. Aber dass es sich um die Niederschrift der Offenbarung Gottes handelt – wenn auch viel komplexer, vielschichtiger und mehrdeutiger, als viele es wahrhaben wollen – lässt sich nicht leugnen. Egal, wo ich theologisch stehe, was ich wie und wann verorte oder wie ich Offenbarung denke oder bibelwissenschaftlich Texte einordne, ist eines entscheidend: Dass der biblische Gott grundlegend ein Gott des Lebens und der Geschichte ist und in und durch diese handelt, lässt sich spätestens mit der Inkarnation in Jesus Christus nicht mehr ignorieren – will man dies nicht funktional weg-rationalisieren. Gott ist ein Gott der Geschichte, egal, wie, wann und wo sich das genau gezeigt hat.
Die biblischen Geschichten lassen sich also nicht als reine existentielle Fiktion verkaufen. Ihre Bedeutung und Relevanz ist eben kein reiner Mythos, der zeitlose Wahrheiten in rein fiktiven Geschichten erzählen will. Sie leben von ihrem Bezug auf die Heilsgeschichte und auf den Gott, der die Geschichte zum Heil führt. Dennoch ist an diesem Vorschlag etwas dran: Warum nicht die Geschichten der Schrift, das Leben unseres Herrn, dazu nutzen, um die tiefen geistlichen und menschlichen Wahrheiten freizulegen – und damit auch im Leben des anderen freizulegen?3
In diesem Sinne könnte man einen mythischen Zugang zu den Texten wagen: Es geht darin nicht unmittelbar um Historizität, sondern um die existenziellen Wahrheiten, die in und durch diese Geschichten erzählt werden. Diese Spuren kann ich aufzeigen – ohne jede Debatte über Geschichte, Bibelkritik, Metaphysik und Erkenntnistheorie – und damit im Leben des anderen den Lichtglanz Gottes aufstrahlen lassen. Sie offenbaren Wahrheit über das Leben und den Menschen, die auch einleuchtet, wenn die Frage nach Faktizität und Historizität nicht gestellt wird.
Natürlich ist die Bibel mehr als ein Mythos – eine Geschichte, die niemals war, aber immer ist! Aber wenn ich diesen ganzen Unterbau an Fakten, Axiomen und Differenzierungen bereit bin, einen Augenblick beiseitezulegen, könnte ich die Kraft des Wortes und dessen Tiefendimension nutzen, um im Leben des anderen den Funken Gottes zu finden und aufstrahlen zu lassen. Dann, wenn sie den Einzelnen berührt haben, kann man immer noch über Metaphysik und die Zuverlässigkeit der Bibel sprechen.
Phänomenologische Apologetik
In diesem ersten Versuch ist ein Lichtblick eröffnet worden, wofür ich in diesem Artikel Werbung machen will: für einen phänomenologischen Ansatz der Apologetik. Dieses Wort „Phänomenologie“ klingt sperrig, meint aber etwas Simples: Phänomenologie (die Lehre von den Phänomenen) setzt bei den Erscheinungen an – also bei der Art, wie sich die Dinge uns als solche selbst zeigen.4
Eine phänomenologische Apologetik setzt nicht unmittelbar bei Gott, Fakten, Argumenten, Analysen und Deduktionen an, sondern bei der Betrachtung des Lebens – im Kleinen wie im Großen – und versucht darin die Spuren, den Fingerzeig Gottes zu erkennen. Es geht weniger um die Frage, wie und ob ich Gott beweisen kann, sondern vielmehr um eine Deutung des Phänomens „Leben“ an sich – frei von deduktiven Argumenten. Man beobachtet das Leben unter dem möglichen Vorzeichen Gottes und versucht, die Erlebnisse des Einzelnen unter das Gottesparadigma zu stellen und sie damit in ein neues Licht zu setzen.
Der phänomenologische Ansatz fragt nicht argumentativ, sondern neugierig deutend, fragend, erforschend – und entdeckt in den Erscheinungen der Ereignisse mehr, als ein Zweifelnder vielleicht zu sehen vermag. Es ist mehr ein Versuch des Perspektiven- und Paradigmenwechsels, neugierig und leise, ohne gleich argumentativ aufdringlich sein zu wollen.
Edmund Husserl, der Vater der philosophischen Strömung der Phänomenologie, hat es so formuliert:
Wir stellen die Frage nicht: ‚Gibt es Gott?‘, sondern: ‚Wie erscheint mir Gott?
Oder anders: Erscheint im Leben eines Menschen der verborgene Gott, ohne dass er es bemerkt? Bricht im Leben des Einzelnen bereits selbst das transzendentale Licht durch – auch ohne dieses argumentativ erweisen zu wollen?
Aber: Der Ansatz Husserls hat auch Schattenseiten. Schnell erkennt man, dass hier ein von seinen Schülern bereits erkanntes Problem offensichtlich wird: Ich kann kein Phänomen ohne die Frage nach Wirklichkeit und Wahrheit betrachten. Letzteres wollte Husserl unbedingt vermeiden. Wahrheit war ihm selbst nie wichtig, nur die Art, wie sich die Dinge der Wahrnehmung zeigen.
So stellt sich die Frage, ob man überhaupt neugierig, fragend, leise anregend einen Perspektivwechsel eröffnen kann, ohne nicht doch hintergründig von Wahrheit, Wirklichkeit und Argumentationen zu sprechen. Jede Deutung basiert auf Indizien, deren Stichhaltigkeit geprüft werden will. Das will eine solche Form der Apologetik nicht leugnen.
Ein phänomenologischer Ansatz will aber das Erleben als Phänomen und als in sich selbst möglichen Ort der Theophanie – der Offenbarung und des göttlichen Erlebens – betrachten.5 Er will darin mehr Deutungen anbieten, Evidenzen neugierig hinterfragen und neue Möglichkeiten aufzeigen, das Erlebnis „Leben“ zu betrachten.
Es geht letztlich um die Rückbindung an Erlebnisse: ästhetisch, moralisch, spirituell. Was in Liturgie, Musik, Natur oder Liebe aufleuchtet, kann nicht zwingend bewiesen werden – aber es lässt sich erleben und ist damit manch einem Zeitgenossen weit evidenter und näher als jedes noch so schlüssige Argument für Gott oder gegen den Naturalismus.6
Vier Dimensionen der Erfahrung als Spuren Gottes
1. Das Numinose/Heilige (Rudolf Otto)
„Es ist nicht ein Gedanke, sondern ein Erleben: das Staunen, die Scheu und zugleich das Begehren vor dem Geheimnisvollen, vor dem sich alle Vernunft verneigt."
Der bekannte Autor Rudolf Otto war vor allem für seine Arbeit über das Phänomen des Heiligen bekannt. Für ihn reagieren Menschen in zweierlei Weisen auf die Begegnung mit dem Heiligen: mit Ehrfurcht und mit Faszination.
Die Begegnung mit dem Sakralen und dem ganz Anderen scheint dem Menschen unbewusst eine Art existenzielles Staunen abzuringen, das zugleich Sehnsucht und Furcht auslöst. Diese Ehrfurcht vor dem Heiligen kann sich auch in vielen alltäglichen Dingen zeigen: Dinge oder Symbole, die das eigene Heilige (welches sich oft als eigentlicher Götze offenbart) repräsentieren, werden dem Alltagsgebrauch im symbolischen, sprichwörtlichen und räumlichen Sinn entzogen.
Das Heilige ist bereits da – auch ohne jede Religion. Es braucht das Andere, das Entzogene und Unantastbare. Was für den einen unantastbar ist, ist für den anderen profan. Doch manche Phänomene scheinen bei Menschen zumeist dieselbe Reaktion auszulösen: die Begegnung mit Musik, Kunst und Natur zwingt selbst dem härtesten Kritiker ein Staunen ab, weil dort im Innersten eine Ahnung, eine Sehnsucht, ein Drängen des innersten Selbst offenbar wird, das einem Fingerzeig gleich über diese Welt ins Unendliche weist. Die Welt ist ein Fenster der Transzendenz, ohne selbst Transzendenz zu sein.
So können eben jene heiligen, sinnesübersteigenden und die Seele ergreifenden Erfahrungen ein Hinweis, eine Spur Gottes im Leben des Einzelnen sein. Dieses Phänomen zu kennen und es im Gespräch oder in der Pastoral zu nutzen, um den Sinn für das Heilige zu wecken, kann eine Möglichkeit sein, Skeptikern Spuren Gottes im Erleben aufzuzeigen.
2. Die Hierophanie7 (Mircea Eliade)
Ein anderer Ansatz zur phänomenologischen Apologetik kann der Verweis auf Hierophanien sein – Erscheinungen des Heiligen. Was meint das? Ein Zitat mag erhellen:
„In jedem Tempel, in jeder Kultstätte ist die Zeit aufgehoben; das Heilige bietet sich als etwas an, das nicht Teil der profanen Zeitstruktur ist.“
Eliade (so auch die Husserl-Schülerin Edith Stein) vertrat die These, dass sich in den sakralen Handlungen, Ritualen und Bauten das Heilige selbst offenbart. Das Phänomen des religiösen Handelns wird damit zu einem Ort der sinnlich erfahrbaren Manifestation der Transzendenz. Wenn das Profane vom Sakralen durchbrochen wird – etwa beim Anzünden einer Kerze oder im stillen Raum –, sprechen viele Menschen von „etwas Höherem“.
Das mag dem einen zu wenig sein, dem anderen zu pluralistisch. Selbst wenn das Phänomen der Religion nur an sich selbst Zeugnis von der Grundsehnsucht nach Transzendenz ablegt, ist es doch bereits ein Fingerzeig: Das existentielle Ringen und Handeln, das sich fast immer in Ritualen offenbart und die Sprache übersteigt, zeigt den Menschen an sich als ein religiöses Wesen. Der Mensch scheint in sich selbst den Drang zum Göttlichen zu tragen.
Dies wird dem Einzelnen in Tempeln, Schreinen und Kirchen offenbar, wo die Seele durch Schönheit und Ritual aus der Zeit gehoben und für das Transzendentale geöffnet wird – wenn auch nur für einen einzigen Moment. Das Sinnliche kann selbst im Kleinsten zum Zeichen und Spiegel des Göttlichen werden.
Solche Erfahrungen offenzulegen und die innere Schönheit sowie die Gutheit von Harmonie und Ästhetik im Leben des Einzelnen zu betonen, kann eine natürliche und debattenfreie Axt an den Baum des Naturalismus legen – ohne auch nur ein einziges Argument ins Feld zu führen.
3. Das Gefühl der Abhängigkeit (Friedrich Schleiermacher)
Ein weiterer Indikator des Göttlichen in den Erfahrungen und Phänomenen des Lebens wurde von einem der bekanntesten und einflussreichsten protestantischen Theologen der Neuzeit formuliert: Friedrich Schleiermacher. Er erfreut sich unter konservativen Christen keiner großen Beliebtheit – was seiner Brillanz jedoch keinen Abbruch tut, auch wenn man seiner Theologie grundlegend widersprechen mag.
Der vielleicht bekannteste Ausdruck Schleiermachers ist seine Definition der Religion: Sie sei „das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“. Was sich zunächst abwertend oder reduktionistisch anhört, hat aber einen wahren Kern. Das Phänomen des Glaubens hat nicht selten darin seinen Grund, dass ein Mensch den Eindruck nicht loswird, dass seine eigene Existenz nicht allein von sich selbst, nicht einmal von der Ganzheit des Lebens und Seins herstammt, sondern grundlegend von etwas anderem, Höherem – von Gott – abhängig ist.
Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass nicht wenige Menschen, die das Konzept „Gott“ (oder ihr jeweiliges Verständnis davon) ablehnen, dennoch an Dinge wie „Fügung“, „Glück“ oder „Schicksal“ glauben. Viele Menschen – wenn sie sich nicht bewusst zwingen, davon Abstand zu nehmen – sehen (oder wollen es sehen) in ihrem Leben einen roten Faden, eine Führung, und wollen Sinn und Ziel erkennen, ohne den Grund genau benennen zu können.
Es hat oft etwas Nebulöses (wer kennt nicht den Satz „Da oben ist etwas!“), aber eine völlige Nichtigkeit des Seins und Lebens lehnen die meisten Menschen mehr oder weniger ab. Zu flüchtig, zufällig und doch zu zusammenhängend erscheint das Leben, als dass es wirklich der bloßen Kontingenz überlassen sein könnte. Schon das ist ein Indiz für einen Ursprung des Seins, der nicht aus der Welt selbst kommt. Schleiermacher formulierte es so:
„Das Gefühl, nicht nur individuell zu existieren, sondern in allem abhängig von dem zu sein, was niemand ist als das ‚Ganze‘, das wir oft mit dem Namen Gott bezeichnen.“
Dieses Ergriffensein ist keine Emotion im Alltagsgebrauch, sondern ein Grundgefühl des Seins. Es kann nicht allein auf Emotion, Angst oder Sinn-Obsession reduziert werden, da es eine scheinbare Konstante menschlicher Erfahrung ist. Selbst die härtesten Atheisten geben zu, dass das Grundbedürfnis, jemandem danken zu wollen, tief in ihnen steckt. Sie wollen nur nicht sehen, dass dies vielleicht die Spur Gottes in ihrem Leben sein könnte – die Spur, die ihre Seele über diese Welt hinausweist.
4. Die Erfahrung höchster Werte (Max Scheler)
„Wer einmal in unlösbare Spannung gerät zwischen dem Schönen, Guten und Wahren, hat die Pforte zur Transzendenz aufgestoßen.“
Ein weiterer, damit verwandter Indikator wurde vom berühmten Philosophen Max Scheler hervorgehoben. Er zeigt auf, was tief in der christlichen Theologie verankert ist: Dass ein Handeln aus den Geboten Gottes ein Spiegeln des göttlichen Wesens darstellt – und dass dieser Umstand der Grund ist, warum heiliges Leben den Christen Christus ähnlicher macht.
Scheler formuliert weniger fromm: Für ihn zeigt sich, dass die Grundwerte des Menschen (Liebe, Güte, Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit) in der Praxis eine Macht und Strahlkraft haben, die über das eigene Tun hinausweisen und auf eine andere Welt verweisen. Gerechtes Handeln ist ein Spiegel und Abglanz der Gerechtigkeit Gottes. Selbst wenn ein Mensch nichts von Gott weiß: Sein Streben nach und sein Handeln für Gerechtigkeit spiegeln die Attribute Gottes und weisen damit als Marker der Transzendenz über diese Welt hinaus.
Vor allem die Liebe vermag dies zu tun. In Gedichten und Liedern wird der Liebe nicht grundlos göttliche Macht zugeschrieben. Liebe zu leben verwandelt das Leben, heilt, berührt und erneuert.
So kann die persönliche Erfahrung solcher Werte ein Indiz des Göttlichen sein. Liebe muss nicht bewiesen werden. Jeder Mensch will geliebt werden, und wer wirklich liebt, geliebt wird oder Liebe ersehnt, erkennt die Schlagkraft, Tiefe, Macht und Transzendenzfähigkeit wahrer Liebe.
Dies kann man in Begegnungen nutzen. Solche Erfahrungen und Phänomene müssen nicht verteidigt werden – sie sprechen für sich selbst. Sie sind phänomenologische Apologetik.
Widerstände und Missverständnisse
„Das ist doch nur Psychologie?“
„Alles, was du beschreibst, sei doch nur psychologische Projektion.“
Dagegen lässt sich erwidern: Ja, Psychologie spielt eine Rolle – denn Gott spricht im menschlichen Bewusstsein. Aber die Frage ist nicht: „Ist das nur Psychologie?“, sondern: „Warum öffnen sich manche Menschen gerade in existenziellen Grenzsituationen oder in Momenten ästhetischer Ekstase für das Transzendente?“
Es geht also um eine Philosophie und Deutung allgemeiner menschlicher Erfahrungen, nicht um eine Psychologisierung des Religiösen. Zudem ließe sich sowohl erkenntnistheoretisch als auch offenbarungstheologisch eine solch harte Trennung zwischen Psychologie, Projektion, Offenbarung, Erweis, Deutung, Theophanie und Anthropologie nicht lange aufrechterhalten.
Auch Projektionen können inspiriert, eingegeben, eingefallen sein. Kann es überhaupt im Prozess der Offenbarung eine projektionsfreie Selbstmitteilung geben, wenn Gott zu konkreten Menschen zu konkreten Zeiten in kultur- und geschichtsspezifischer Weise „spricht“? Warum muss so radikal getrennt werden, wenn die Schrift selbst so etwas nie tut?
„Ich glaube nicht an das Übernatürliche?“
Für strikte Naturalisten ist der Gedanke an „etwas Übernatürliches“ absurd. Hier hilft es, nicht gleich von „Übernatürlichem“ zu sprechen. Eine terminologische Abänderung kann Abhilfe schaffen: Man kann von einer Tiefendimension der Wirklichkeit sprechen, die sich zwar außerhalb des experimentell Messbaren befindet (z. B. Liebe, Gerechtigkeit, Bewusstseinsphänomene), aber dennoch real existiert.
Auf diese Weise lässt sich ein „Horizonterweiterungs“-Ansatz formulieren, der zunächst nicht direkt das Metaphysische behauptet, sondern das undokumentierte Moment menschlicher Erfahrung betont und deutet.
Phänomenologische Apologetik und was Apologeten daraus lernen können
Ich bin mir bewusst, dass im Herzen vieler Apologeten die Sehnsucht nach Klarheit und Präzision lebt. Doch es ist keine Schande, anzuerkennen, dass Leben und Erleben mehr – und irrationaler – sind als jede Argumentation.
Nicht nur das Faktum des Zeitgeistes und dessen philosophischen Grundannahmen verschwinden nicht durch meine Ablehnung, mein Ignorieren oder Beschimpfen. Auch der für Apologeten oft so nervige emotional-psychologische Teil des Menschen, der nicht allein durch Argumente zu überzeugen ist, bleibt einfach bestehen.
So kann ein phänomenologischer Zugang nicht nur viele Nerven sparen, sondern dem Gegenüber auch viel Wertschätzung und Interesse entgegenbringen, da diese Methode viel Zeit und Aufmerksamkeit für das Leben und Wahrnehmen des anderen erfordert.
Dafür muss ich aber:
- Das Phänomen des Lebens in all seiner Ambivalenz und Komplexität annehmen und akzeptieren.
- Die Erfahrungen und Deutungen anderer nicht nur hören und zerlegen, sondern anhören, wahrnehmen und ernst nehmen. Die Momente, in denen sich das Heilige dem Einzelnen zeigt, sind sehr intime Erfahrungen (wie viele Christen sehr wohl wissen!) und brauchen zum Teilen vor allem eines: Vertrauen.
- Den Mut aufbringen, Axiome, Deduktionen und Faktenanalysen kurz beiseitezulegen und zu erkennen, dass das Gegenüber vielleicht Erfahrungen, Zeugnisse und Hierophanien stärker berühren als harte Fakten.
- Die Art, wie und wodurch jemand das Leben sieht und deutet, wertfrei annehmen. Was ist wichtiger: meine Vorliebe für Argumente und Analysen – oder dem anderen das Evangelium zu verkündigen?
- Mich der Welt und ihren vielseitigen Erfahrungen aussetzen – auch und vor allem meiner eigenen. Es braucht eigenes tiefes Erleben und ein wenig Kenntnis, um diese Phänomene zu erkennen und zu deuten.
- Wertschätzung für Musik, Kunst, Schönheit und Harmonie entwickeln – nicht nur in den eigenen Kirchen und Lebensorten, sondern auch im Leben des anderen und sogar in anderen religiösen Phänomenen.
- Geduld und Mut zur Lücke haben: Phänomenologische Apologetik braucht Zeit, Geduld und Beziehungsarbeit. Sie verlangt eine Offenheit für das Leben, die Welt und den Mut, sich anderen zu öffnen.
Leise, aber unüberhörbar
Viele Menschen suchen harte Fakten – und Apologetik vermag ihnen diese zu geben. Aber die Vergangenheit formt immer noch die Gegenwart, und so kann nicht jeder etwas mit Beweisen, Fakten und Analysen anfangen. Manche brauchen etwas anderes, um Gott in ihrem Leben wahrnehmen zu können.
Wir müssen wertfrei anerkennen, dass nicht alle, die Gott suchen, ihn in Syllogismen finden – vielleicht aber im Staunen, im Weinen, im Wundern, in der Ehrfurcht und in der Liebe.
Phänomenologische Apologetik ist keine Alternative zur klassischen Theologie, sondern ihre Schwester. Sie spricht dort, wo Worte fehlen – und hört dort zu, wo jemand bereit ist, das Heilige zuzulassen. Denn manchmal genügt ein leiser Moment – und Gott ist da. Man muss nur die Augen bereitwillig öffnen. Und manchmal braucht es einen Eli, der dem Samuel deutet, wer die Stimme ist, die da zu ihm spricht.
1 Je nachdem, was ich mit dem Wort „Beweis“ meine, stimmt diese Aussage sogar! Hier wird wieder einmal deutlich, warum Aussagenlogik so kompliziert und voller Komplikationen steckt.
2 Liberal meint hier eine Axiomatik und hat nichts mit der kirchenpolitischen Ausrichtung zu tun: Ursprünglich meint „liberal“ einfach, dass diese Theologie beim Leben und Erfahren des Menschen ansetzt und all dies im Kontext der modernen Erkenntnisse tun. Ein solcher Ansatz ist damit deutungsoffener, aber nicht automatisch falsch oder weniger durchdacht. Liberale Theologie setzt bei dem scheinbar einzig Offensichtlichen an: dem Leben und Erfahren des Menschen. Diese Logik mag man fragwürdig finden, ist aber nicht in sich selbst falsch.
3 Die Kirchenväter (Origenes, Johannes Cassian, Augustinus) haben dies den moralischen Schriftsinn genannt. In ihnen offenbart sich, das Wesen des Phänomens Mensch und wie es zu Gott und der Schöpfung steht und in dieser Beziehung leben und wirken soll.
4 Ob sich Dinge von selbst und allein für sich selbst zeigen können, ist wiederum eine andere Debatte.
5 Dies ist insofern möglich, da die ganze Schöpfung ein Ort, ein Spiegel der Herrlichkeit Gottes ist. Selbst die Sünde offenbart den Schöpfer: Denn als Phänomen kann sie betrachtet und in ihren Auswirkungen analysiert werden. Ihre Destruktivität offenbart nicht nur das Gericht, sondern auch die Gutheit der eigentlichen Schöpfung und die Sehnsucht nach Heil und Leben – selbst wenn dem Einzelnen diese Worte und Konzepte fremd erscheinen.
6 In gewisser Hinsicht gibt es keine Betrachtung a priori – allein in und aus der Vernunft. Denn die Schlüssigkeit einer Deduktion basiert immer letztlich auf die Erfahrung des Lebens und damit, wie sich die Dinge dem Einzelnen und einer Gesellschaft zeigen. Somit wird jede Argumentation implizit oder explizit phänomenologisch begründet.
7 Die Manifestation des Heiligen: Die Art und Weise, wie sich das Göttliche in der Welt zeigt. Theo-phanien sind persönliche Erscheinungen und Manifestationen eines konkreten Gottes. Hiero-phanien meinen einfach die Erscheinungen des Heiligen und ist damit allgemeiner gehalten. Es ist ein Begriff aus den Religionswissenschaften.
8 Für Menschen mit dem Hang zu wissenschaftlichen Arbeiten, dazu: Negel, Joachim: Projektion als Inspiration. Der Versuch einer phänomenologischen Reformulierung des Offenbarungsbegriffs, Freiburg 2015. Dies ist die Kurzfassung seiner Habilitation, in dem er Feuerbachs Projektionsthese offenbarungstheologisch fruchtbar macht.
Literatur- und Quellenverzeichnis
- Eliade, M. (1957). Das Heilige und das Profane. Eine Einführung in die vergleichende Religionsgeschichte. München: Kösel.
- Husserl, E. (1913). Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Halle a. S.: Max Niemeyer Verlag.
- Kant, I. (1793). Kritik der praktischen Vernunft. Riga: Johann Friedrich Hartknoch.
- Lindbeck, G. A. (1984). The Nature of Doctrine: Religion and Theology in a Postliberal Age. Philadelphia: Westminster Press.
- Marcel, G. (1951). Homo Viator: Introduction to a Metaphysic of Hope. New York: Harper & Row.
- Otto, R. (1917). Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München: Beck.
- Pargament, K. I. (1997). The Psychology of Religion and Coping: Theory, Research, Practice. New York: Guilford Press.
- Ricoeur, P. (1975). The Symbolism of Evil. Boston: Beacon Press.
- Schleiermacher, F. (1799/1806). Reden über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Berlin: Reimer.
- Scheler, M. (1928). Die Stellung des Menschen im Kosmos. Wien: Kurt Wolff Verlag.
- Stein, E. (1930). Endliches und Ewiges Sein. Freiburg i. Br.: Verlag Herder.
- Turner, V. (1969). The Ritual Process: Structure and Anti-Structure. Chicago: Aldine Publishing.