Ist die Bibel einfach nur ein Produkt ihrer Zeit?

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Simon Garrecht
veröffentlicht am 5.9.2024

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Die Texte der Bibel sind nicht in einem luftleeren Raum entstanden. Wer sie liest, fühlt sich durch die darin beschriebenen Denkweisen, Überzeugungen und Traditionen in eine völlig andere Welt und Zeit hineinversetzt. Für uns stellt sich dabei die Frage, in welchem Verhältnis die Bibeltexte zu ihrer Kultur stehen, denn als Christen glauben wir daran, dass die Schriften der Bibel von Gott selbst inspiriert worden sind (2. Tim 3,16). Dem halten viele Kritiker die Behauptung entgegen, dass die Texte der Bibel nur das antike Denken der damaligen Zeit widerspiegeln und damit ein Produkt ganz natürlicher Prozesse sind. Dies würde aufzeigen, dass die Bibel nicht Gottes Wort sein kann und es ein ernsthaftes Problem für jeden Christen gibt, der an dieser Überzeugung festhält.

Was kann man dieser Kritik entgegenhalten?

In diesem kurzen Artikel sollen ein paar der (sehr viel mehr) Prinzipien, angeführt werden, die für die Verhältnisbestimmung von Bibel und Kultur wichtig sind. Es ist erst mal wichtig, zu klären, wovon man überhaupt spricht, wenn man von „Kultur redet“. Dazu bestehen verschiedene Definitionen; grob lässt sich sagen, dass eine Kultur das ist, was die Werte, Glaubenssätze, Gebräuche, Praktiken einer bestimmten Gruppe von Menschen bestimmen. Das können Dinge sein, denen wir aus christlicher Sicht zustimmen oder auch nicht. Eine Kultur ist also weder per se gut noch grundsätzlich schlecht. Aus christlicher Perspektive hat eine Kultur  keinen Wert in sich und muss nicht um jeden Preis erhalten werden. Der biblische Blick auf Kultur ist also der, dass es in jeder Kultur Elemente gibt, die mehr und welche, die weniger dem Willen Gottes entsprechen.

Was heißt es also, die Bibel in ihrem kulturellen Zusammenhang zu lesen?
Die Texte der Bibel wurden geschrieben von Menschen, die selbst Teil einer Kultur waren. Und dabei waren die Menschen, denen sich Gott in biblischen Zeiten geoffenbart hat, Teil verschiedener Kulturen. Weite Teile des  NT entstanden wurden in einem griechisch geprägten kulturellen Umfeld. Das AT wurde geschrieben von Juden, die ihre jüdische Kultur hatten. Und auch die war nicht im luftleeren Raum, sondern unterlag selbst auch verschiedenen kulturellen Einflüssen: Ägyptischen, Kanaanitischen, Hethitischen, Persischen, Babylonischen.

Das birgt einige Spannungen in sich. Denn wenn wir nicht davon ausgehen, dass das alles perfekte und vollkommene Kulturen waren, ist die Frage, wie wir diese Texte, die zu einer völlig anderen Zeit, an völlig andere Menschen geschrieben waren, auf uns heute übertragen können. 
Sollen wir das einfach ignorieren, denn die Bibel ist ja Gottes Wort - und dann 1:1 auf uns heute übertragen? Aber das wird schwierig, denn ganz vieles, was in der Bibel steht, lässt sich nicht 1:1 übertragen. Gleichzeitig gibt es auch hier die Gefahr, Aussagen der Bibel auszuhebeln, indem wir sagen: „Das galt ja nur für die Kultur damals“ oder: „Das hat Paulus/Petrus aufgrund seines kulturellen Hintergrundes gesagt, das nicht aber nicht der Wille Gottes“ Und das wäre zurecht kritisch zu sehen, denn dann könnte man hingehen und bei all den Bibelstellen, mit denen man sich schwer tut sagen, dass diese aufgrund von der Kultur nicht so zu verstehen sind, wie sie da offenkundig stehen. 

Die Texte der Bibel sind in verschiedene Kulturkreisen der damaligen Zeit entstanden und haben einen anderen Bezug zu diesen, als es etwa beim Koran und dem Islam der Fall ist. In den islamischen Quellen liegt eine starke Betonung auf der arabischen Kultur und Sprache. Der Koran gilt als unübersetzbar und so heißt es auch auf dem Buchcover von deutschen Koranübersetzungen oftmals „Die ungefähre Übersetzung des Edlen Quran“ etc.
Gläubige Muslime versuchen sich an der sogenannten Sunnah zu orientieren, also das Leben  ihres Propheten Mohammed nachzuahmen. Das kann bis in die kleinsten Einzelheiten des Lebens gehen und führt dazu, dass ihre Sprache, ihr Aussehen, ihr Verhalten verändert wird. Wo immer der Islam in seiner Reinform gelebt und praktiziert wird, geht das auf Kosten der vorherrschenden Kultur. Indonesier, Pakistani, Somalis usw. geben ihre eigene Kultur auf und übernehmen die von arabischen Menschen aus dem 7./8. Jahrhundert.

Das gibt es im Christentum so nicht. Wir müssen nicht die Kultur der Hebräer, der Aramäer, der Griechen oder einer der anderen Personengruppen, in deren Setting sich Gott offenbart hat, kopieren. Der biblische Gott hat in verschiedene Kulturen hinein seine göttlichen Werte hineingesprochen oder hinein offenbart. Aber diese sind nicht einfach 1:1 das, was ohnehin alle dort schon geglaubt und gedacht haben, sondern waren in vielen Dingen oft Counter-Kulturell. Dem Polytheismus der kanaanitischen Völker stand der israelitische Ein-Gott-Glaube gegenüber. Tempelprostitution stand sexueller Reinheit gegenüber. Usw.

Manche Leute gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass die biblische Kultur der damaligen Kultur entspricht. Aber das ist nicht der Fall. Wenn jemand sagt, dass die Bibel nicht mehr zeitgemäß sei, macht er den Denkfehler zu glauben, dass sie es irgendwann einmal gewesen wäre. Doch die Botschaft und Ethik Gottes waren in bestimmten Bereichen schon immer anders als Kulturen, die sein Volk und die seine Kirche umgeben haben Und um die Botschaft der Bibel richtig zu verstehen, ist es oftmals wichtig, genau hinzuschauen, wo der Unterschied zu den Kulturen der Israeliten liegt. Denn Gott spricht in Kulturen hinein, indem er die jeweilige kulturelle Form benutzt, aber, wo nötig, den Inhalt verändert.

Hier ein Bild zur Veranschaulichung:

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Gott gibt seine ewigen göttlichen Wahrheiten an Menschen weiter, die das in ihre jeweilige Kultur übersetzt haben. Unsere Aufgabe im Hier und Heute besteht darin, die dieselbe göttliche Wahrheit auf unsere Kultur und Zeit zu übertragen. Manchmal kann man biblische Passagen direkt auf uns übertragen, weil die Ausgangssituation mehr oder weniger dieselbe ist. Aber ansonsten gilt immer, dass wir kontextuelle Theologie betreiben müssen.

Der Alttestamentler John Walton sagt dazu:

Die Autorität ist an die Botschaft gebunden, die der Autor als Vermittler der göttlichen Offenbarung vermitteln will. Gott hat sich in die Welt des alten Israel begeben, um diese Offenbarung zu initiieren. Wir erkennen daher an, dass die Bibel zwar für uns (in der Tat für alle Menschen) geschrieben ist, aber nicht für uns geschrieben wurde. In ihrem Kontext wird sie nicht in unserer Sprache kommuniziert; sie ist nicht an unsere Kultur gerichtet; sie nimmt nicht die Fragen über die Welt und ihre Abläufe vorweg, die sich aus unseren modernen Situationen und Themen ergeben.

Lost World of Adam and Eve. S. 19*

Die Bibel war noch nie zeitgemäß. 

Die Botschaft und Ethik Gottes waren in bestimmten Bereichen schon immer anders als die Kulturen, von denen die Menschen umgeben waren, denen Gott sich mitgeteilt hat. Die Frage ist: Galt das nur damals? Galt das nur im Mittleren Osten? Galt das nur in Bezug auf die Römer? Galt das nur in Bezug auf die Griechen? Sagt Gott sich heute: „Endlich ist die Kultur dran, auf die ich seit Tausenden von Jahren warte! Die westliche, von Humanismus und 68er-Bewegung durchschüttelte Welt, in der man sich mit allen möglichen Geschlechtspronomen anspricht und endlich all die Werte, die ich vertrete, auch vertreten werden?“ 

Ist der ewige Schöpfer des Universums endlich an dem Punkt angelangt, auf den er seit der Erschaffung des Menschen wartet? Unsere Kultur - unsere Werte - unser Denken Nein! So wie es schon immer war, ist es auch heute: Alles, was unsere Kultur produziert, ist mitbetroffen vom Sündenfall. Manche Punkte in einer Kultur sind gut. Andere nicht. Für uns ist daher der Schritt wichtig, herauszugehen und zu fragen, wenn Gott in der Bibel spricht / handelt: 

  • Was sind die ewigen Wahrheiten, die hinter seinem Reden & Handeln stehen - die unabhängig von der Kultur, in die sie hinein geoffenbart worden sind, gültig sind? 
  • Und was sind nur kulturell bedingte Formen, in denen diese Wahrheiten ausgelebt werden? 
  • Und: Wie bricht sich diese ewige Wahrheit, für mich, in meinem Leben und meiner Kultur runter?

Gottes Botschaft gilt der ganzen Welt. Aber er hat sich dazu entschieden, diese durch Menschen an uns weiterzugeben, die ihrerseits wieder selbst Teil einer Kultur gewesen sind. Unsere Aufgabe besteht also darin, das, was der göttlich inspirierte Schreiber niedergeschrieben hat, auf uns heute zu übertragen. Es wäre komisch, wenn Gott sich einem antiken Israeliten anders zeigen würde, als auf eine Weise, dass dieser es auch versteht. Wir als heutige Leser müssen verstehen, was der Text dem Erstleser gesagt hat, damit wir die richtige Übertragung auf uns heute machen können.

Wenn wir das gemacht haben, werden wir manche Tiefe aus dem Text herausholen, die uns vorher gar nicht bewusst gewesen ist. Dafür mal ein Beispiel.

Das Abendmahl und das Symposion

Wer sich einmal der gottesdienstlichen Praxis des Abendmahls auseinandersetzt, wird feststellen, dass dies in gewisser Weise an das hellenistische Umfeld der ersten Christen angepasst war. Dort gab es das sogenannte Symposion, das im Grunde ein sexuell aufgeladenes Trinkgelage darstellt. 

Dabei lud ein meist wohlhabender Gastgeber eine Reihe an gewählten Gästen zu einem gemeinsamen Essen in seinem Haus. Dieses gemeinsame Mahl wurde mit einem Hymnus beendet. Nach dem Mahl haben die (Ehe) Frauen den Ort des Geschehens verlassen.  Anschließend wurde das Symposion mit einem Weinkelch eröffnet, was von einem anschließenden ausschweifenden Weingenuss begleitet wurde. Es gab einen „Symposiarch“ der die Verteilung des Weines geleitet hat. Anschließend kam es zu Trinkkommentaren, vorgetragenen Liedern, Reden, Belehrungen, Tänze von Tänzerinnen etc. Erotische Elemente waren dabei ein wesentliches Element, so waren diesen Abenden auch sogenannte „Hetären“ dabei. Das waren im Grunde gesellschaftlich anerkannte Edelprostituierte, die am Ende eines solchen Symposions erotische Tänze aufführten und sexuelle Handlungen an und mit den anwesenden Männern durchführten.

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Nun ist es interessant, dass das christliche Abendmahl die Struktur eines solchen griechischen Symposions hatte. Es gab ebenso einen Eröffnungsspruch, der auch allen Christen heute bekannt sein dürfte: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. (…) Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut; das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19). Es wurde ein Weinkelch herumgereicht, aus dem die Anwesenden getrunken und anschließend Beiträge in Form von Gebeten gegeben haben. Es gab ein Gastmahl, das dem Ganzen vorausging und die Abendmahlsversammlungen fanden zumeist in Häusern der Reichen statt.

Jetzt könnte man sagen, dass dies zeige, dass die Christen einfach nur ein Produkt ihrer Umgebung waren. Was die anderen machten, machten die Christen ebenso. Sie sind Kinder ihrer Zeit und wenn wir heute das Abendmahl feiern, halten wir einfach nur eine antike Sitte am Leben.Aber das ist nicht der Fall. Denn entscheidend sind die Unterschiede, die es beim christlichen Abendmahl gibt und in denen steckt eine göttliche Wahrheit, die auch für jeden von uns heute relevant ist:

  • Der Eröffnungsspruch gilt nicht einem heidnischen Gott, sondern Jesus. 
  • Am Abendmahl nahmen Männer und Frauen teil.
  • Die Gastfreundschaft und Gemeinschaft gilt allen sozialen Schichten.
  • Alle sozialen Trennungen sind aufgehoben.
  • Erotische Elemente gibt es nicht, sondern die Ehefrauen sind mit anwesend.

Während hier die Form also im Wesentlichen dieselbe ist, ist doch der Inhalt an einigen Punkten entscheidend anders. Und in dem Unterschied liegt das, was Gott der Gesellschaft durch die Kirche sagen möchte. Nämlich, dass alle Menschen zu ihm eingeladen sind. Dass seine Kirche andere ethische Maßstäbe hat in sexual ethischen Fragen. Dass er Menschen zu einer Familie zusammen führt, die normalerweise nie miteinander Gemeinschaft pflegen würde.  Auch wenn wir das Abendmahl heute unterschiedlich feiern können, zeigt uns dieses Beispiel, wie kontextuelle Theologie funktioniert.

Dies ist nur ein exemplarisches Beispiel, für das man viele weitere anbringen könnte. Gott beamt die Menschen, die ihm nachfolgen, nicht auf einen anderen Planeten, sondern setzt sie ein, um als Salz und Licht einen Unterschied für ihn zu machen. Der christliche Glaube verneint und zerstört Kulturen nicht, sondern bewahrt alle neutralen Formen und positiven Elemente, während er gleichzeitig inhaltlich an manchen Stellen das verändert, das Gott und seinem Willen entgegensteht.