Die islamische Scharia und das Reich Gottes
Simon Garrecht
veröffentlicht am 13.2.2024
In Ländern, in denen die Scharia die Grundlage der Verfassung bildet, erfahren Nicht-Muslime mancherorts enorme Einschränkungen ihrer Menschenrechte.
Es gehört zum Selbstverständnis solcher Länder, den Islam zu schützen und zu fördern, während Angehörige anderer Religionen zwar geduldet werden, ihre Rechte aber im Vergleich zu den Rechten ihrer muslimischen Mitbürger oft erheblich eingeschränkt sind (Schirrmacher 2003:106). Dies betrifft die Kleiderordnung, die Religionsausübung, die Möglichkeit, den eigenen Glauben missionarisch weiterzugeben, und das Recht, den Islam zu verlassen oder zu einer anderen Religion überzutreten.
Letzteres wird damit begründet, dass der Abfall vom Islam als Verrat am islamischen Staat angesehen wird und diesen untergraben würde (:104). Während traditionalistische Muslime oft die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen anprangern, die von säkularen Demokratien begangen werden, empfinden viele Nicht-Muslime deren Einstellung zu den Grundrechten als ebenso anstößig.
Diese traditionalistischen Muslime behaupten oft, dass es in einer islamischen Gemeinschaft durch die Scharia einen objektiven moralischen Standard gibt.
Dieser Standard widerspricht jedoch dem Verständnis der grundlegenden Menschenrechte, wie sie in grundlegenden Texten wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 niedergelegt sind.
Eine der größten Schwierigkeiten mit der Position der Scharia als objektive moralische Norm und gesetzgebende Autorität besteht darin, dass es seit der angenommenen Herrschaft des islamischen Propheten Mohammed und der vier darauf folgenden Kalifen (632-661) keinen allgemein anerkannten muslimischen Herrscher gegeben hat. Stattdessen zersplitterte die islamische Gemeinschaft in mehrere Untergruppen, die zum Teil sehr unterschiedliche Auffassungen von Theologie und islamischem Recht hatten (Schirrmacher 2015:90).
Selbst die Sultane des Osmanischen Reiches, die rund 650 Jahre lang an der Macht blieben und große Teile der islamischen Welt beherrschten, wurden von vielen arabischen Gelehrten nie als legitime Herrscher der islamischen Welt anerkannt.
Aus muslimischer Sicht spielt jedoch die Legitimität des jeweiligen irdischen Oberhauptes des islamischen Staates eine entscheidende Rolle. Ein Muslim kann sich nur innerhalb der islamischen Gemeinschaft sicher sein, dass er sein Leben nach den Maßstäben des göttlichen Rechts führen kann (Nagel 2001:255-256). Über die korrekte Anwendung der Scharia und die Legitimität islamischer Herrscher hat es jedoch selbst unter Muslimen nie einen Konsens gegeben.
Bei der Anwendung der Scharia gehen die Muslime häufig von einem zuverlässigen historischen Konsens unter ihren Religionsgelehrten (Ulema) aus. Es wird auch angenommen, dass dieser Konsens aufgrund der Gewaltenteilung zwischen den Rechtsgelehrten und dem Kalifat im Laufe der Geschichte frei von Korruption war. Die Integrität und Neutralität dieses so genannten Konsenses ist jedoch fraglich.
Theoretisch war es die Aufgabe des Kalifen und seiner Vertreter, die Scharia-Vorschriften so umzusetzen, wie es die Ulema unvoreingenommen vereinbart hatten. Um sich jedoch die Unterstützung der Ulema zu sichern, gewährten die islamischen Herrscher ihnen und ihren Anhängern oft hohe Positionen und Landbesitz als Anreize (Robinson 1988:39).
In der Praxis ließen die islamischen Herrscher nicht zu, dass die Rechtsgelehrten völlig außerhalb ihres Einflusses standen und die Gerichte unabhängig agierten. Außerdem war es für die Anerkennung der Herrschaft durch das Volk häufig riskant, lokale Traditionen und Gesetze der Unterworfenen durch islamische Gesetze zu ersetzen. Infolgedessen wurde die Scharia häufig mit konkurrierenden lokalen Praktiken der Nicht-Muslime in einen Zusammenhang gebracht.
Der autoritative Charakter der Scharia wird in der etablierten islamischen Theologie nicht in Frage gestellt. Doch auch hier gibt es immer wieder unterschiedliche Auffassungen über die richtige Auslegung und Anwendung der Scharia im Einzelfall. Bei aller von traditionalistischen Muslimen postulierten Objektivität des islamischen Rechts kann es also nicht als eine Sammlung klar definierter Gesetze betrachtet werden. Sie kann bis zu einem gewissen Grad unterschiedlich interpretiert werden, was sich in den gegensätzlichen Auffassungen widerspiegelt, die sowohl zwischen den vier sunnitischen Rechtsschulen als auch innerhalb der Schulen selbst herrschen (Nagel 2014:200).
Dies führt in der Lebenspraxis immer wieder dazu, dass Muslime derjenigen Rechtsschule folgen, deren Auffassung ihnen im Einzelfall am günstigsten ist.
Schon in der frühen islamischen Geschichte gab es "die" Scharia nie in Form eines formalen Gesetzbuches, das einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hätte (Robinson 1988:30). Bei allen Unterschieden im Verständnis der Scharia-Auslegung oder der Legitimation der jeweiligen islamischen Herrscher bleiben die theokratischen Prinzipien des Islam jedoch intakt. Ziel ist es, diese Welt in allen Bereichen dem göttlich verordneten Staat anzunähern, bis sich die gesamte Welt zum Islam bekennt und die von Allah selbst gegebenen Gebote und Verbote als Maßstab hat (Nagel 2014:160).8
Dies steht in krassem Gegensatz zu den biblischen Aussagen über das Reich Gottes und die von Gott geforderte Ethik, wie sie z.B. in der Bergpredigt zu finden sind. Nach dem traditionellen christlichen Verständnis ist dieses Reich Gottes nur in den einzelnen Nachfolgern Jesu sichtbar, die sich bemühen sollen, nach dem Willen Gottes zu leben und ihn auf diese Weise zu vertreten. Aus diesem christlichen Selbstverständnis von persönlicher Nachfolge und Freiwilligkeit folgt, dass es nicht Aufgabe des Staates ist, die Nachfolge Christi zu garantieren oder eine biblische Ethik zu verordnen. Daraus ergibt sich ein Verständnis, dass innerhalb einer Gemeinschaft Menschen mit unterschiedlichem Grad an Bereitschaft leben, die Forderungen der christlichen Ethik gemeinsam umzusetzen. Wenn wir über das Selbstverständnis der Kirche nachdenken, wird dieses Verständnis an verschiedenen Stellen deutlich. Zum Beispiel, wenn der Apostel Paulus die Christen in Rom auffordert, sich der staatlichen Obrigkeit zu unterwerfen und sie als Diener Gottes zu verstehen (Römer 13,1-5). Er tut dies in dem Wissen, dass die Staatsdiener nicht aus gläubigen Christen bestehen. Selbst wenn Machthaber ihren Machtanspruch oft mit christlich-theologischen Begriffen begründeten, unterschied sich ihr Verständnis von dem eines islamischen Kalifats.
Seit Augustinus, über Thomas von Aquin und zahlreiche mittelalterliche Autoren finden wir die Einsicht, dass kirchliche Autoritäten durchaus Einfluss auf die weltliche Macht nehmen können.
Ein Staat auf dieser Seite könnte jedoch niemals in der Lage sein, die höchste, vollkommenste Form des Gemeinwesens zu sein.
Zeitgenössische christliche Philosophen wie Richard Swinburne, Alvin Plantinga, William Lane Craig und andere haben ebenfalls die Bedeutung einer transzendenten, metaphysischen Grundlage als Notwendigkeit für eine objektive Moral hervorgehoben. Dennoch kommen sie, wie viele christliche Denker, zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Grundsätze für das Zusammenleben in der Gesellschaft.
Aus einer traditionellen biblisch-theologischen Perspektive wird das Reich Gottes "jetzt" und "noch nicht" verwirklicht. Wie bereits erwähnt, hat sich dieses Verständnis durch die gesamte Kirchengeschichte gezogen. Im Rahmen der christlichen Orthodoxie gibt es keine theokratische Überzeugung, die mit der eines islamischen Kalifats vergleichbar wäre.
Quellen
Nagel, Tillmann (2014). Angst vor Allah?: Auseinandersetzungen mit dem Islam. Berlin: Duncker & Humblot.
Robinson, Francis (1988). Weltatlas der alten Kulturen: Der Islam. 3. Auflage. München: Christian Verlag GmbH.
Schirrmacher, Christine (2003). Der Islam: Geschichte - Lehre. Unterschiede zum Christentum. Band 1. Holzgerlingen: SCM-Verlag GmbH & Co. KG.
Schirrmacher, Christine (2015). Politischer Islam und Demokratie: Konfliktfelder. Holzgerlingen: SCM-Verlag GmbH & Co. KG.