Die Hermeneutik von Jesus und den neutestamentlichen Autoren

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Simon Garrecht
veröffentlicht am 28.12.2023

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Um zu einem textgemäßen Umgang mit den Texten der Bibel zu gelangen, muss es aus christlicher Perspektive, für den Ausleger, zu einer der ersten Aufgaben gehören, die Hermeneutik von Jesus und den neutestamentlichen Autoren zu erarbeiten. Unser Verständnis der Hebräischen Bibel, aber auch der Aussagen und Lehren Jesu, hängen untrennbar mit dieser zusammen. Unsere persönliche Jesus- Nachfolge, aber auch unser ekklesiologisches Verständnis und unsere Perspektive auf das Judentum, werden von den hermeneutischen Grundsätzen beeinflusst, mit welchen wir an die Bibel herangehen. Daher gilt es zu klären, welche Autorität die Schriften der Hebräischen Bibel für Jesus und die neutestamentlichen Autoren hatten. Gleichzeitig ist dann wichtig zu sehen, welche Ableitungen, sich für sie aus diesen Texten ergeben hatten und anhand welcher Auslegungsprinzipien und Methoden sie zu diesen gekommen sind. Der folgenden Hausarbeit liegt dabei methodische Grundannahmen zugrunde. Zum einen, dass die Texte des Neuen Testaments, wie sie in ihrer kanonischen Endgestalt vorliegen, authentische Aufzeichnungen der Verkündigung Jesu darstellen. Zum anderen, dass die Autoren der neutestamentlichen Schriften, den traditionell zugeschriebenen Verfassern, zuzuordnen sind. 

Bezeichnung

Die übliche jüdische Bezeichnung jener 39 Schriften, die (protestantische) Chris- ten als das „Alte Testament“ bezeichnen, ist „Tanach“. Diese Bezeichnung gibt allerdings nicht das spezifisch christliche Verständnis wieder, dass eine Kontinu- ität besteht zwischen jenen Texten und der als „Neues Testament“ bezeichneten Textsammlung (McGrath, Alister E. 2013:164). Wenn von dem Alten Testament gesprochen wird, wird damit bereits begrifflich eine bundestheologische und heilgeschichtliche Einordnung vorgenommen, die bestimmte Denkvoraussetzungen hat. Es bettet die Texte in einen gesamtbiblischen Kontext ein, der in ihnen eine fortschreitende Gottesoffenbarung erkennt, die ihren Höhepunkt im Leben, Sterben und Auferstehen von Jesus Christus erfährt. Dies darf nicht als Bruch mit der jüdischen Tradition verstanden werden, vielmehr ist die „Verstehensgrundlage für ntl. Heilsgeschehen (...) das AT, wie es umgekehrt durch das ntl. Heilgeschehen zu einem neuen Verständnis des AT kam.“ (W.S. LaSor, D.A. Hub- bard & F.W. Bush 2012:21). Die Bezeichnung drückt also eine theologische Überzeugung aus, nämlich, dass der Inhalte des Alten Testaments in einer gewissen Weise abgelöst, beziehungsweise in einen erweiterten Bedeutungshorizont gesetzt worden sind. Diese auf Paulus zurückgehende Bezeichnung (2. Kor 3,14), ist damit schon Ausdruck der neutestamentlichen Hermeneutik. 

Autorität & Inspirationsverständnis

An verschiedenen Stellen verwenden Jesus und die neutestamentlichen Autoren den Begriff „γραφή“ (=Schrift), um die Schriften des Alten Testaments zu bezeichnen (siehe Lk 24,27; Joh 5,39; 10,35; Apg 8,32; Gal 3,8). Wenn das getan wird, dann schwingen dabei theologische Ansprüche auf diese Schriften mit, nämlich dass diese die autoritative Grundlage für Christen bilden (Childs, Brevard S. 2003:76). Mit Blick auf das Alte Testament schreibt Paulus in seinem zweiten Brief an Timotheus: 

Alle Schrift (γραφή) ist von Gott eingegeben (θεόπνευστος) und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes richtig ist, für jedes gute Werk ausgerüstet.

2. Tim 3,16-17

Hier werden grundlegende hermeneutische Prinzipien von Paulus deutlich, der repräsentativ für die anderen Apostel und damit das Inspirationsverständnis der frühen Kirche ist. Grundlage aller theologischen Überlegungen ist das Verständnis, dass die alttestamentlichen Schriften „θεόπνευστος“ also Gott-gehaucht sind. Sie gelten also keineswegs als überholt oder aufgehoben, sondern werden als autoritativ angesehen, wenn es um theologische oder praktische ethische Fragen geht. Dies erfährt keine Einschränkung, denn es wird ausgesagt, dass Gläubige durch die alttestamentlichen Schriften für „jedes gute Werk“ des christlichen Lebens befähigt werden. Die Denkvoraussetzung im Umgang mit den Schriften des Alten Testaments, ist also die Annahme, ihrer vollen Genügsamkeit in praktischen und theologischen Fragen. 

Umfang der Schriften

Bei Lukas lesen wir, wie der nachösterliche Jesus in Bezug auf sich selbst davon spricht: „dass alles erfüllt werden muss, was über mich geschrieben steht, in dem Gesetz Moses und in den Propheten und Psalmen.“. (Lk 24,44). Hier werden direkt und indirekt eine Reihe für die Hermeneutik Jesu relevanter Aussagen gemacht. Zum einen werden die fünf Bücher Mose, die prophetischen Schriften und die Psalmen, als religiös-autoritative Schriften identifiziert. Im Regelfall wer- den bei Jesus und den neutestamentlichen Autoren Zitate, die aus als verbindlich angesehenen Schriften entnommen sind, eingeleitet damit, dass „geschrieben steht“ (Hahn 2011:45). Es ist nicht vollständig geklärt, wann im Judentum die Kanonisierung der aller im Tanach enthaltener Schriften stattgefunden hat. Oftmals wird hier auf eine Zusammenkunft jüdischer Gelehrter am Ende des 1. Jhd. in Jabne hingewiesen (Hahn 2011:41). Dieser Position wird allerdings von an- deren Alttestamentlern widersprochen, welche die Kanonisierung des Tanachs noch vor die Zeit Jesu ansetzen (W.S. Lasor, D.A. Hubbard & F.W. Bush 2012:52). Für uns ist an dieser Stelle relevant, dass sich in den Schriften des Neuen Testaments keine Hinweise darauf finden lassen, dass Jesus oder die neutestamentlichen Autoren einen Bruch mit dem vom Judentum als autoritativ anerkanntem Schriftgut vorgenommen hätten. Jesus befand sich mit vielen seiner Zeitgenossen im Diskurs zu verschiedenen Glaubensfragen, die Rolle der Autorität der Schrift gehörte nicht dazu. Dies lässt darauf schlussfolgern, dass all jene Schriften, die von Jesu jüdischen Zeitgenossen als kanonisch anerkannt waren, von ihm und den Autoren des Neuen Testaments, ebenso als solche betrachtet wurden (Hahn 2011:59). Entscheidend für das hermeneutische Verständnis der neutestamentlichen Autoren, kommt hinzu, dass sie nicht ausschließlich, die Schriften des Alten Testaments als autoritativ für Glaubenslehre- und Praxis be- trachteten. So lesen wir von Paulus, dass er in 1. Tim 5,17-18 eine Aussage Jesu, die sich in Lk 10,7 findet, als „γραφή“ zitiert. Damit findet sich bereits innerhalb des Neuen Testaments bezeugt, dass mindestens das Lukas-Evangelium in den Leitungskreisen der frühen Kirche als kanonisch angesehen wurde. Von Petrus, finden wir in 2. Petr 3,16 über die Paulusbriefe gesagt, das diese zu den „γραφή“ gezählt werden. Im Lichte von 2.Tim 3,16 lässt sich daraus schlussfolgern, dass bereits für die Autoren des Neuen Testaments, über die Schriften des Alten Testaments hinaus, weitere Texte (und vermutlich auch mündliche Traditionen Jesu) eine verbindliche Rolle hatten. 

Hermeneutik von Jesus

Das Bild, das uns die Evangelien vom Dienst und der Theologie Jesu malen, verdeutlichen seine in das Alte Testament verwurzelte Hermeneutik. Jesus hatte laut Darstellung der Evangelien viele verbale Konflikte mit den führenden jüdischen Leitern seiner Zeit. Doch lesen wir an keiner Stelle davon, dass sein Verständnis vom Alten Testament einen Bruch mit der Autorität oder dem Inspirationsverständnis, wie es bei seinen Konfliktpartnern vorlag, mit sich brachte. Wenngleich auch Jesu Auslegungen sich teilweise stark von der seiner jüdischen Umwelt unterscheiden konnten, so lässt sich daraus doch ableiten, dass er eine ebenso hohe Sicht von ihrer autoritativen Rolle hatte. Ein wichtiger Unterschied in Jesu Hermeneutik ist dabei aber seine Abgrenzung von der mündlichen Tradition, wie sie von jüdischen Zeitgenossen aus dem Talmud abgeleitet wurde und für die Pharisäern in der Praxis oftmals bedeutsamer war, als die kanonischen Schriften selbst (Stagg 1969:165-166). So hebt er im Diskurs mit den Pharisäern und Schriftgelehrten die autoritative Rolle des mosaischen Gesetzes, gegenüber der von ihm nicht anerkannten Tradition, hervor (Mt 15,1-3). Um geistliche Sachverhalte richtig zu verstehen, ist für Jesus die Kenntnis der alttestamentlichen Schriften entscheidend (Mt 22,29). Seine hohe Sicht auf diese wird insbesondere auch an den vielen Schriftverweisen in den Predigten und Aussprüchen Jesu deutlich. Deren ganzes Ausmaß kann nicht genau angegeben werden, da sich in diesen neben direkten Zitaten, auch viele indirekte Anspielungen auf alttestamentliche Titel, Passagen und Motive finden. Doch lässt sich klar sagen, dass sich Jesu Verkündigung wesentlich auf das Alte Testament stützte. Er spricht davon, dass die autoritative Rolle der Heiligen Schrift nicht aufgelöst werden kann (Joh 10,35) und bestätigte dass sich Zusagen real erfüllen (Lk 24,44-46). Ein weiterer zentraler hermeneutischer Unterschied zu vorherigen Auslegern der alttestamentlichen Schriften liegt dabei aber vor allem in der Autorität, die Jesus in ihrer Deutung für sich selbst in Anspruch nahm (Behrens 2013:36). Besonders deutlich wird dies in den Antithesen der Bergpredigt, in welchen sich Jesus auf vorher aufgegriffene Gebote der Thora mit der Aussage „ich aber sage euch...“ (siehe Mt 5,21ff., 27ff., 27ff., 33ff.) bezieht. Jesus tritt hier nicht als Lehrer des Gesetzes in Erscheinung, sondern als dessen autoritativer Ausleger. Ein entscheidendes Element im Verständnis, das Jesus vom Alten Testament hatte, war seine Überzeugung, dass dieses sich an vielen Stellen direkt und indirekt auf ihn bezieht. So sah er die Erfüllung messianischer, jesajanischer Verheißungen in dem Antritt seines eigenen Wirkens gegeben (Lk 4,19). Im Gespräch mit seinen jüdischen Zuhörern sprach er davon, dass die alttestamentlichen Schriften von ihm zeugen (Joh 5,39) und erkannte in den spezifischen Ereignissen rund um seine Passion, die konkrete Erfüllung prophetischer Aussagen des Alten Testaments (Mt 25,56). Vom nachösterlichen Jesus lesen wir, dass er in den Emmausjüngern verschiedene Schriftpassagen des Alten Testaments zeigte und erklärte, die sich auf ihn bezogen (Lk 24,27). Auch dort, wo Jesus nicht explizit von einer in ihm ver- wirklichten Schrifterfüllung spricht, ist davon auszugehen, dass seine Hörer, im- plizite Verweise sehr wohl als solche verstanden haben. Etwa in seiner Selbstiden- tifikation als der „Gute Hirte“ in Joh 10,1ff. Auch wenn er hier nicht direkt darauf verweist, aus der Schrift zu zitieren, liegt nahe, dass den meisten jüdischen Zuhörern bewusst war, dass er damit auf Psalm 23 anspielt. Durch die oftmals verwendete Selbstbezeichnung als „Sohn des Menschen“ und vor allem seine endzeitliche und messianische Anwendung (siehe Mk 2,28; Mk 14,62, Mt 16,13-14) identifiziert Jesus sich als die Erfüllung jüdisch-eschatologischen Verheißung und Hoffnung, wie sie sich in Daniel 7,13-14 geschrieben findet. Indem Jesus sich auf Personen und Ereignisse wie David (Mk 13,14), Jona (Mt 12,40), Noah und die Sintflut (Lk 17,27) oder Naaman (Lk 4,27) bezieht, scheint er damit zu bestätigen, dass er von deren Historizität ausgeht. 

Hermeneutik der neutestamentlichen Autoren

Wie auch in der Verkündigung Jesu, wie sie in den vier kanonischen Evangelien festgehalten ist, finden wir in den in dem Schriftgut der neutestamentlichen Autoren, direkt und indirekt zahlreiche Verweise auf das Alte Testament. Dies geschieht bei den unterschiedlichen Texten und Autoren in jeweils unter unterschiedlichem Ausmaß. Allen galt aber der Selbstanspruch als Grundlage, ihre christliche Glaubenslehre- und Praxis in Übereinstimmung mit den Schriften des Alten Testaments zu verstehen. Die von den Autoren des Neuen Testaments vertretene Hermeneutik setzt die Hebräische Bibel also als autoritative Grundlage voraus und erkennt ihre bleibende Gültigkeit an (Hahn 2011:59). Wie sehr die neutestamentliche Rezeption der alttestamentlichen Texte, deren ursprünglichem Textsinn entsprach wird dabei auch unter evangelikalen Theologen unterschiedlich gesehen. Von der Grundannahme ausgehend, dass Gottes Charakter in sich konsistent ist und sein Wirken in einer zusammenhängenden Heilsgeschichte verwirklicht hat, kann davon ausgegangen werden, dass sich mindestens wieder- holende Muster seines im Alten Testament bezeugten Handelns auch im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi wiederfinden. 

Christologische Hermeneutik

Die neutestamentlichen Autoren gründen und entfalten ihre theologischen Überzeugungen auf Jesus Christus. Das beschränkt sich nicht auf Jesu Lehren, sondern betrifft seine ganze Person und das in ihm verwirklichte Heilshandeln Gottes. Paulus greift in seinem Brief an die Korinther ein mündlich tradiertes Glaubensbekenntnis auf (Lapide 1977:54), dass laut diesem inhaltlich die Grundlage des Heils beschreibt (1. Kor 15,2). Das sind im Kern, der stellvertretende Sühneopfertod Jesu (1. Kor 15,3), sowie dessen Auferstehung von den Toten (1. Kor 15,4). An der Heilsrelevanz dieser beider Ereignisse können hermeneutische Grundprinzipien der neutestamentlichen Autoren und frühen Kirche als ganzes abgelesen werden. Indem die Person Jesu und sein in Kreuzigung und der Auferstehung geschehenem Heilshandeln, als Grundlagen des Glaubens gelten, ergeben sich für die frühe Kirche und damit die Autoren des Neuen Testaments ein veränderter Blick und Umgang mit den Texten des Alten Testaments. Diese wurden for- tan „im Lichte des Glaubens an Christus gelesen und von daher auch als Texte rezipiert mit denen dieser Glaube interpretiert und zur Sprache gebracht werden kann.“ (Behrens 2013:34). Jesu Botschaft beschränkte sich nicht auf das Ausle- gen und Übertragen früherer Schriften. Er selbst ist, mit seinem Kommen, seinem Sühnetod und seiner Auferstehung von den Toten, Zentrum der Botschaft und Heilsgeschichte Gottes. Da das Christusgeschehen als Offenbarungshandeln Gottes verstanden wurde, wurde in der Auslegung des Alten Testaments ein neuer Bedeutungshorizont erkennbar, da nun Jesus zum Ausgangspunkt aller theologischen Überlegungen wurde. Die in den alttestamentlichen Schriften festgehaltenen messianischen Verheißungen, haben gemäß der Überzeugung der Urkirche in Jesus ihre Erfüllung gefunden. Daher ist mit ihm der Beginn einer vorher ersehnten messianischen Heilszeit angebrochen. So ergab sich für die frühe Kirche und damit auch die Autoren der Schriften des Neuen Testaments eine neue Denkvoraussetzung, die ihre Hermeneutik fortan prägen sollte: Die Perspektive, dass sich all jene den Messias betreffenden Passagen auf Jesus beziehen (Dreytza, Hilbrands & Schmid 2002:16). Diese hermeneutische Perspektive bringt eine Reihe von Implikationen mit sich, da sich in diesem neuen messianischen Zeitalter ein verändertes Verhältnis zu vorherigen geistlichen Institutionen, Bestimmungen und vor allem dem mosaischen Bund ergibt. So lasen und deuteten die Autoren des Neuen Testaments die Thora durch ihren christologischen Blick zwangsläufig anders, als die rabbinische Tradition. Da die Kirche sich in einem neuen, durch Jesus gestifteten Bund befindet (Lk 22,20), sind Bundesbedingungen des mosaischen Bundes, wie etwa die Ritualgesetze, damit hinfällig (siehe Hebr 7,22.27; Kol 2,16f.). Während dabei von keinem Bruch mit der jüdischen Messiastradition die Rede sein kann, ist es dennoch wichtig zu bedenken, dass die Auseinandersetzung mit dem Messias Jesus, etwa bei Paulus nicht vor allem durch alttestamentliche Belegtexte geschieht. Vielmehr findet sie ihren Bezug in der Person und dem Wirken von Jesus, mit dem als Ausgangspunkt aller theologischen Überlegungen ist, eine Christustheologie entfaltet werden kann, die an vielen Stellen auch gänzlich ohne Verweise auf die Schriften der Hebräischen Bibel auskommt (Childs 2003.2:138). 

Typologische Deutungen

Nach der Definition des Lexham Bible Dictionary, ist eine Typologie „eine literarisch-hermeneutische Methode, bei der eine Person, ein Ereignis oder eine Institution im Alten Testament so verstanden wird, dass sie einer Person, einem Ereignis oder einer Institution im Neuen Testament entspricht.“ (Cameron 2016:). Eine typologische Auslegung alttestamentlicher Passagen, erkennt in diesen also vorausgeworfene Schatten, die auf etwas Zukünftiges hindeuten. Der Begriff „τύπος“ von dem sich „Typologie“ ableitet, bedeutet so viel wie „Vorbild“, „Muster“ oder „Beispiel“ und umfasst im Kontext typologischer Deutungen verschiedene Bedeutungsaspekte. So verwendet Paulus, dem 14 Briefe des Neuen Testaments zugeschrieben werden, den Begriff, zum einen in Röm 5,14 als er den ersten Menschen Adam als ein Muster für den kommenden Messias Jesus deutet. Hier wird ein Verhältnis beschrieben, in dem Adam als Bild und Jesus als dessen Gegenbild gesehen werden (Behrens 2012:40). In einem etwas anderen Bedeu- tungszusammenhang spricht Paulus von einem Typus als er in 1. Kor 10,6, als er alttestamentliche Gerichtshandlungen als abschreckendes Vorbild für Christen im neuen Bund bezeichnet. Typologische Deutungen im Neuen Testament variieren damit also in ihrer Verwendung, aber auch in den Gegenständen ihrer Bezug- nahme. Sie beziehen sich auf Personen, Gegenstände, Institutionen und Ereignisse des Alten Testaments und verleihen diese eine über ihren eigentlichen historischen Charakter hinausgehende, auf die messianische Zeit vorausschauende Bedeutung (Dreytza, Hilbrands & Schmid 2002:17). 

Vergeistlichte Deutung

In verschiedenen Briefen finden wir Beispiele einer Vergeistlichung alttestamentlicher Institutionen und Personen, bei denen nicht von einer typologischen Deutung im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann. Vielmehr finden hier Übertragungen von Geboten, Konzepten, Ämtern u.a. statt, die fortan nicht mehr im buchstäblichen Sinne, sondern auf einer geistlichen Ebene gedacht und gelebt werden sollten. Diese vergeistlichte Deutung, ist dabei nicht willkürlicher Natur, sondern entspringt im Wesentlichen der Tatsache, dass die frühchristliche Gemeinde sich an einem anderen Zeitpunkt der Heilsgeschichte verstand. So wurde die Teilhabe am Gottesvolk nicht länger mit der Zugehörigkeit zum ethnischen Volk Israel verknüpft, sondern gemäß alttestamentlicher Voraussagen (siehe Ps 100) als eine völkerübergreifende Gemeinschaft verstanden (Gal 3,28). Von dieser hermeneutischen Grundlage her ließen sich nun Eigenschaften, die auf das ethnische Volk Israel gemünzt waren, auf das in Jesus vereinte Gottesvolk übertragen (1. Petrus 2,9-10). Beispielsweise ergab sich, aufbauend auf Jesu Verheißung, der Sendung des Heiligen Geistes (Joh 16,13) und der Überzeugung, dass jeder Christ, diesen in sich trägt (Röm 8,9), ein neues Verständnis des Tempels, der im Judentum als Ort der Gegenwart Gottes verstanden worden ist. Diese Gegenwart Gottes wird durch den innewohnenden Heiligen Geist, bei dem einzelnen Jesus-Nachfolger, aber auch der Kirche als Ganzes sichtbar, sodass von diesem Gedanken herkommend, Paulus den Tempel geistlich auf die Gemeinde Jesu übertragen und deuten kann (Eph 2,18-22). 

Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen

So wie Jesus selbst, in seiner Person, alttestamentliche Verheißungen verwirklicht sieht, ist es der Selbstanspruch der neutestamentlichen Autoren aufzuzeigen, dass Jesu Kommen, Wirken, Sterben und Auferstehen der Theologie und den Zusagen des Alten Testaments entsprechen. Vor allem im Matthäusevangelium finden sich eine ganze Reihe sogenannter „Erfüllungszitate“ in denen berichtete Ereignisse, mit alttestamentlichen Passagen verknüpft und dabei als eine Erfüllung von diesen verstanden werden. Auch wenn manchmal behauptet wird, Matthäus würde dabei ausschließlich explizite Erfüllungen im Sinn haben (Behrens 2013:37), ist an vielen Stellen eher davon auszugehen, dass er an typologische Erfüllungen, alttesta- mentlicher Texte denkt. Beispielsweise der mit Hosea 11,1 verknüpfte Aufenthalt Jesu in Ägypten (Mt 2,14-15) der eine typologische Entsprechung Israels ist, um das es im literarischen Kontext der Hosea-Passage geht. Auch bei anderen Autoren des Neuen Testaments finden wir diese Bezüge und Verweise auf Erfüllun- gen prophetischer Aussagen in der Hebräischen Bibel (siehe Mk 14,49; Röm 9,17; 1.Kor 15,3). Einen interessanten Fall markiert das Buch der Offenbarung, das zahlreiche eschatologische Aussagen alttestamentlicher prophetischer und apoka- lyptischer Texte aufgreift und auf Jesu zweites Kommen bezieht (beispielsweise Offb 14,14ff mit Jes 63,1-6 & Joel 4,12-17). Diese Übertragung veranschaulicht einen hermeneutischen Schlüssel, der sich durch das gesamte Neue Testament zieht: das „schon jetzt“ und „noch nicht“ des in Jesus angebrochenen Reiches Gottes. So gehen die Autoren des Neuen Testaments davon aus, dass Jesus die im Alten Testament vorausgesagte Zeit seiner messianischen Herrschaft bereits ein- geleitet hat, dennoch findet die letztendliche Vollendung seiner Herrschaft Gottes noch statt (Fee & Stuart 2010:170). 

Bibliografie

Behrens, Achim (2013). Das Alte Testament verstehen: Die Hermeneutik des ers- ten Teils der christlichen Bibel. Göttingen: Dr. R. Ruprecht e.K. 
Cameron, Daniel J. (2008). „Typologie“. The Lexham Bible Dictionary.
Childs, Brevard S. (2003). Die Theologie der einen Bibel: Band 1. Grundstrukturen. Freiburg im Breisgau: Herder Verlag.
Childs, Brevard S. (2003). Die Theologie der einen Bibel: Band 2. Hauptthemen. Freiburg im Breisgau: Herder Verlag. 
Dreytza Manfred, Hilbrands Walter, Schmid Hartmut (2002). Das Studium den Alten Testaments: Eine Einführung in die Methoden der Exege- se.Wuppertal: R. Brockhaus Verlag. 
Fee Gordon D. & Stuart Douglas (2010). Effektives Bibelstudium. 6. Auflage. Gießen: Brunnen Verlag. 
Hahn, Ferdinand (2011). Theologie des Neuen Testaments: Band II. Die Einheit des Neuen Testaments. 3. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck. 
Lapide, Pinchas E. (1977). Auferstehung: Ein jüdisches Glaubenserlebnis. Stuttgart: Calwer Verlag. München: Kösel. 
McGrath, Alister E. (2013). Hempelmann, Heinzpeter. (Hg.): Der Weg der christ- lichen Theologie. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Gießen: Brunnen Verlag. 
Stagg, Frank (1969). „Matthew“. The Broadman Bible Commentary. Nashville: Broadman. 
Vorgrimler, Herbert (2008). „Hermeneutik“. Neues Theologisches Wörterbuch. S. 287. 
W.S. Lasor, D.A. Hubbard & F.W. Bush (2012). Helmuth Egelkraut. (Hg.): Der Weg der christlichen Theologie. 3. überarbeitete und erweiterte Aufla- ge. Gießen: Brunnen Verlag. (Serie).