Bibel mit der Bibel begründen?
Simon Garrecht
veröffentlicht am 1.3.2024
Argumentieren Christen im Kreis, wenn sie biblische Texte benutzen, um für die Wahrheit ihrer Glaubensüberzeugungen zu argumentieren? Manche Skeptiker machen diesen Vorwurf. Beispielsweise dann, wenn Christen anhand der Bibel für die Existenz Jesu oder die Historizität seiner Auferstehung argumentieren. Aber auch viele Christen sind der (m.E. irrigen) Annahme, dass sie ihre Überzeugungen nur dann stichhaltig begründet haben, wenn sie auf außerbiblische Quellen und Belege zurückgreifen konnten. Doch ist der Verweis auf die Bibel wirklich ein solches Zirkelschluss-Argument?
Je nachdem, worauf man sich bezieht, kann man diesen Vorwurf als zutreffend bezeichnen. In den meisten Fällen, in denen er erhoben wird, allerdings nicht und ich möchte aufführen, warum.
Wenn sich ein gläubiger Christ mit einem Skeptiker über ein Thema unterhält und dann sagt „Das ist wahr, weil es die Bibel sagt“, dann ist das tatsächlich ziemlich schlecht „argumentiert“. Denn das nicht christliche Gegenüber spricht der Bibel keine Autorität zu. Während man in innerchristlichen Diskussionen oder Gesprächen mit Angehörigen christlicher Sondergruppen die göttliche Inspiration der Bibel als gemeinsame Gesprächsgrundlage voraussetzen kann (oder können sollte), ist die in Gesprächen mit Atheisten oder Menschen aus nicht christlichen Glaubensrichtungen nicht gegeben. Aber so platt argumentiert doch (fast) keiner.
Was viele einfach nicht verstehen, ist, dass man die Texte der Bibel als historische Dokumente ernst nehmen kann, ohne dabei deren göttliche Inspiration ins Feld führen oder voraussetzen zu müssen. Selbst viele Christen verstehen das nicht und schaffen es nicht, in ihrem Kopf die Differenzierung zwischen der Bibel als Wort Gottes einerseits und als Sammlung antiker historischer Dokumente andererseits zu machen. Das ist ein Stück weit verständlich. Wir Christen glauben, dass die Bibel „Gotteswort in Menschenwort“ ist. Wir sind davon überzeugt (oder sollten es sein), dass die Bibel von Gottes Geist inspiriert wurde und damit eben nicht nur eine Ansammlung antiker Dokumente.
Doch sind die Bücher der Bibel (trotz ihrer göttlichen Inspiration) eben auch zeitgeschichtliche Dokumente, wie andere zeitgenössische Texte aus ihrer Umwelt es ebenso sind. Man muss nicht Christ sein, um das anzuerkennen. Gläubige Christen glauben dabei vielleicht mehr, als sie von ihrem Gegenüber erwarten können: Dass die Bibel unfehlbar ist, dass auch die Wunder passiert sind, etc. Dennoch ist es keine Alles-oder-Nichts-Geschichte. Die Wahl liegt nicht zwischen einem vollständigen Glauben an alles, was in der Bibel geschrieben steht, und einem völligen Verwerfen ihres historischen Wertes.
Ich finde es dabei immer wieder interessant, wie viele sagen, dass man den biblischen Schriften nicht vertrauen könne, weil diese von gläubigen Juden und Christen geschrieben worden sind. Die waren nicht neutral und damit sind es auch deren Texte nicht. Außerdem seien die biblischen Texte unzuverlässig und darum zu verwerfen, weil sie voller fantastischer Wundergeschichten sind. Voll von sprechenden Eseln, sich vermehrenden Broten und Heilungswundern.
Doch wenn wir diesen Maßstab ansetzen - wie viel können wir dann überhaupt über die antike Geschichte sagen? Den Großteil der Erkenntnisse, die Historiker aus antiken Quellen herausarbeiten, entnehmen diese aus nicht neutralen Quellen. Und - surprise surprise - deren Autoren waren weder Atheisten noch haben sie nach heutigen wissenschaftlichen methodischen Standards gearbeitet.
Sehr vieles von dem, was wir über die antike Geschichte wissen, entnehmen wir beispielsweise aus Geschichtschroniken, die Könige in Auftrag gegeben haben. In solchen Texten werden die eigenen Armeen und Könige als siegreich und mächtig beschrieben, während die Gegner oftmals weniger gut dabei wegkommen. Viele andere uns erhaltenen wichtigen historischen Quellen sind religiöse Texte aus der Feder von Vertretern einer Glaubensrichtung oder deren kritischen Gegnern. Viele der Werke antiker Historiker sind voller Wunderberichte. Und selbstverständlich voll von weltanschaulichen Überzeugungen, die heute als widerlegt gelten oder von Menschen der Neuzeit nicht geteilt werden. Können Historiker diese Texte trotz fehlender Neutralität verwerten und einen historischen Kern herausarbeiten? Natürlich. Können sie das, selbst, wenn sie die religiösen Überzeugungen der Autoren nicht teilen? Selbstverständlich.
Würde man antike Texte mit denselben Gründen aussortieren oder als unglaubwürdig deklarieren, wie man das häufig bei biblischen Texten macht, müsste man das Studium der Altertumsgeschichte vermutlich auf 1-2 Semester reduzieren. So viel verwertbares Material gäbe es dann vermutlich gar nicht mehr. Die Aufgabe von Historikern ist es, sich diese Berichte anzuschauen und deren historischen Kern herauszuarbeiten. Zu schauen, was können wir, ohne dass wir zwingend das Weltbild der Autoren teilen, an Fakten herausfiltern?
Witzigerweise sprechen selbst Skeptiker wie der atheistische Neutestamentler Bart Ehrman, in ihrer Argumentation den biblischen Texten mehr historisches Gewicht zu, als dies manche Christen tun. In seinem Buch „Did Jesus Exist?“ führt er an, dass man selbstverständlich anhand biblischer Texte für die Existenz Jesu argumentieren kann. Diese Texte wurden von christlichen, voreingenommenen Autoren verfasst. Aber wie bereits gesagt - welche antiken Texte wurden das nicht?
Und nicht nur für antike Texte gilt das. Mal ein aktuelleres Beispiel, um zu veranschaulichen, dass Neutralität der Quellen nicht erforderlich ist, um sie historisch verwerten zu können. Stell dir vor, wir könnten die Geschichte der 1930er und 1940er ausschließlich aus Episoden der Deutschen Wochenschau (Nazi-Propaganda) rekonstruieren. Hätten sie uns überhaupt nichts an historischer Wahrheit zu vermitteln?Natürlich sind sie voller menschenverachtender Nazi-Propaganda, Geschichtsrevisionismus etc., aber dennoch können wir eine Menge ableiten über die Kultur, das Denken, die Mode und die Einstellungen der Menschen damals. Wir könnten bestimmte historische Ereignisse entnehmen. Dass 1936 die Olympiade in Berlin stattfand. Welche Präsidenten damals welche Länder beherrschten. Zu welchen Ländern das Deutsche Reich ein gutes Verhältnis hatte und zu welchen nicht. Wir könnten entnehmen, dass der Zweite Weltkrieg stattgefunden hat und welche Parteien an ihm beteiligt waren. In welchen Städten Schlachten stattfanden und wie sich der Krieg gegen Ende hin immer mehr zuungunsten der Nazis hinentwickelte. Dass in diesem Krieg bis zuletzt Menschen an die Front geschickt wurden. Selbst ältere Männer und Kinder. Dass Juden, Homosexuelle, Kommunisten und andere politisch Andersdenkende als minderwertig gesehen wurden. Das und vieles mehr könnten wir daraus entnehmen.
An diesem Beispiel ist gezeigt: Selbst wenn deine Quellen komplett voreingenommen und nicht neutral sind, kann man aus ihnen auf historische Ereignisse und Personen rückschließen. Dasselbe gilt für die biblischen Texte. Ohne an ihre göttliche Inspiration zu glauben, oder von der Neutralität der biblischen Autoren auszugehen kann und sollte man trotzdem einen historischen Kern anerkennen. In Bezug auf Jesus wäre das beispielsweise
- Dass er gelebt hat und eine Gruppe von Anhängern um sich scharte.
- Dass im 1. Jahrhundert eine große Gruppe von Juden und Nichtjuden zu der Überzeugung gekommen ist, dass Jesus der versprochene Messias ist.
- Dass Jesus durch Kreuzigung starb.
- Dass eine größere Gruppe von seinen Anhängern nach seinem Tod zu der Überzeugung kam, er wäre auferstanden.
Und vieles mehr.
Natürlich kann man auch hyperskeptisch sein und das alles anzweifeln. Das Internet ist voller Beiträge, Podcasts und Videos atheistischer Skeptiker, die in ihrer Infragestellung der biblischen Texte, dabei häufig weit über das hinausgehen, was selbst atheistische und agnostische Historiker als gesichert anerkennen. Zwischen dem Diskurs in der Fachwelt und dem auf YouTube liegen da häufig Welten.
Was ich dabei auch immer wieder beobachte, ist, dass viele völlig überschätzen, wie viele bzw. wenige Quellen wir überhaupt über die Antike haben. Für vieles etwa, das wir über das Israel des 1. Jahrhunderts wissen, haben wir abgesehen von den Texten des Neuen Testaments nur eine einzige Quelle: Josephus Flavius. Auch deswegen ist es völlig abwegig, wenn Menschen für alles Mögliche außerbiblische Belege fordern. Die existieren oftmals schlichtweg nicht (mehr).
Wenn es so wäre, dass nur außenstehende Quellen zulässig wären, dann lasst uns konsequent sein. Dann lasst uns auch die Berichte von Überlebenden des Holocausts oder des Völkermords an den Armeniern, Aramäern und Griechen nicht ernst nehmen. Es ist logisch, dass wir nicht allzu viele Berichte ehemaliger Nazis oder osmanischer Kämpfer über diese Ereignisse haben und vor allem auf die Zeugnisse der Überlebenden selbst zurückgreifen müssen.
Auch bei vielen biblischen Ereignissen und Personen müssten wir auch fragen: Wer hätte denn von davon berichten sollen? In wessen Interesse hätte es gestanden, das zu tun? Doch insbesondere Menschen, die selbst von den Ereignissen betroffen waren, oder nicht? Obwohl viele Menschen, die viel Zeit haben, hobbymäßig neue Seiten auf Wikipedia anliegen und gefühlt jeder C-Promi seine eigene Wiki-Seite hat, ist selbst heute zu beobachten, dass viele Artikel von den Akteuren und Gruppen selbst verfasst worden sind. Die antike Welt war nicht voller Universitäten, die sich der Forschung verschrieben und über alles und jeden geschrieben haben. An sich ist es ziemlich naheliegend, dass es zuallererst einmal den gläubigen jüdischen und christlichen Autoren am Herzen lag, bestimmte Ereignisse schriftlich zu verarbeiten. Ob das Ermorden von 5 bis 10 Säuglingen in und um Betlehem zur Zeit der Geburt Jesu oder das Umherziehen biblischer Patriarchen im antiken Kanaan wie Abraham oder Isaak. Vieles, was die biblischen Texte berichten, war für die Umwelt der biblischen Autoren nicht besonders relevant. Zumindest nicht relevant genug, um davon zu berichten.
Daher: Nein, es ist kein Zirkelschluss-Argument, anhand biblischer Texte für die Historizität bestimmter Ereignisse und Personen zu argumentieren. Sie sind oftmals selbst in den Augen von Historikern die zuverlässigsten vorhandenen Quellen und die Einzigen, die wir zu erwarten haben.