Warum es keine Original-Manuskripte des Neuen Testaments gibt

Simon Garrecht
veröffentlicht am 15.1.2025

Es gibt keine einzige Originalhandschrift des Neuen Testaments. Von keiner einzigen biblischen Schrift haben wir das Original. Wir haben Kopien von Kopien.
Manche Skeptiker führen diesen Einwand an, mit Aussagen wie ein User unter einem unserer Instagrambeiträge sie getätigt hat: „Wir können nicht einmal über den Inhalt und Glaubwürdigkeit der Originale reden. Wir reden momentan high Level über Kopien von Kopien."
Nun muss man dazu sagen, dass selbst viele Atheisten, diesen Einwand extrem schwach finden. Der Text, aus dem Christen heute predigen, ist durch zigtausende Manuskripte bis zu einem sehr genauen Grad rekonstruierbar. Dafür brauchen wir überhaupt keine Originale. Das macht ihn natürlich noch nicht inhaltlich wahr. Aber zu behaupten, dass es besonders problematisch wäre, dass wir keine Originalmanuskripte der Bibel mehr haben, sagt mehr über die Leute aus, welche solche Einwände vorbringen, als über die tatsächliche Faktenlage.
Aber ist das wirklich so problematisch? Sollten uns das wirklich in unserem Glauben verunsichern?
Auf keinen Fall. Denn was viele Skeptiker dabei nicht erwähnen (oder vielleicht auch gar nicht wissen): Es gibt heute von keinem einzigen antiken Dokument das Original. Sämtliche antiken Texte sind uns immer nur in Abschriften enthalten.
Skeptiker heben diesen Punkt häufig so hervor, als wäre er unglaublich bedeutsam. Aber das ist er nicht. Wenn wir dem Text des Neuen Testaments nicht trauen können, weil wir ja „nicht mal“ dessen Originale haben, dann können wir überhaupt keinen antiken Dokumenten mehr trauen. Können Althistoriker dann überhaupt ihre Arbeit verrichten? Sollten Sie ihre Lehrstühle an der Universität dann nicht lieber aufgeben und anderen Platz machen?
Tatsächlich zeugt solche Aussagen/Denkweisen nur von einer hyperskeptischen Haltung gegenüber den biblischen Texten und verrät mehr über die eigene Voreingenommenheit als über die tatsächliche Faktenlage. Vielleicht hängt das bei ehemaligen Christen auch zusammen, mit einer sehr naiven Sichtweise, die man jahrelang hatte und die dann erschüttert wurde. Spekulationen über die biografischen Hintergründe, die dahinterstehen können, wenn jemand solche (in meinen Augen schlechten) Einwände vorbringt, will ich an dieser Stelle einmal unterlassen.
Es gibt ein paar ganz einfache und nachvollziehbare Gründe, weshalb wir heute keine Originalmanuskripte des Neuen Testaments mehr haben:
Zerfall von Papyrus
Handschriften des Neuen Testaments liegen uns in zwei Schreibstoffen vor: Papyrus & Pergament. Papyrus war bis Mitte des 4. Jhd. n. Chr. vorherrschend im Gebrauch. Darum sind die ältesten NT-Handschriften, die uns vorliegen, auf Papyrus geschrieben.
Papyrus war in dieser Zeit das gängige Medium, um Texte niederzuschreiben, bis es dann von (dem wesentlich länger haltbaren) Pergament abgelöst wurde. Papyrusrollen waren empfindlich gegenüber Feuchtigkeit, mechanischer Beanspruchung und Wurmfraß. Der Altphilologe George Houston schreibt in seinem Werk „Inside Roman Luvararus“, dass die durchschnittliche Lebensdauer von Papyrusrollen bei 100 bis 125 Jahren lag. In extremen Fällen bei 300 bis 500 Jahren (Houston 2014:257). Man müsste daher eigentlich eher fragen: Wie kommt es, dass wir heute noch überhaupt irgendwelche Manuskripte aus den ersten Jahrhunderten haben? Tatsächlich sind uns Papyri fast ausschließlich im trockenen Wüstensand Nordafrikas erhalten geblieben.
Kriege, Plündereien, mutwillige Zerstörungen
Dafür gäbe es viele Beispiele in der Antike: die Einfälle der Germanen, Osmanen, Persern usw. In den Kriegen von Napoleon werden viele religiöse Einrichtungen ausgeraubt. Allein im 1. Weltkrieg wurden schätzungsweise eine Million religiöser Bücher und antike Manuskripte zerstört. Auch im 2. Weltkrieg wurden unzählig viele Büchereien zerstört, die antike Manuskripte enthielten.
Aber wir müssen dafür nicht einmal allzu weit in die Vergangenheit zurückschauen. Es gibt auch gegenwärtige Beispiele. So wurde 2014 in Tripolis (Libanon) eine Bibliothek von Islamisten niedergebrannt, die rund 78.000 Bücher, darunter viele unersetzbare christliche Manuskripte, enthielt. Durch die IS-Terroristen wurden neben vielen unersetzbaren Kulturgütern auch zigtausende Bücher, darunter viele NT-Manuskripte, zerstört.
Naturkatastrophen, Wasserschäden & Brände
Davon waren über die Jahrtausende viele Schriften, darunter auch Manuskripte des Neuen Testaments, betroffen. In Antiochia (heutige Türkei), einer Region, in der es sehr viele Christen und Klöster gab, forderten es im 6. Jahrhundert innerhalb von 60 Jahren zwei so schwere Erdbeben, die insgesamt zwischen 300.000 und 350.000 Tote. Es lassen sich viele weitere Beispiele nennen, für solche Naturkatastrophen in verschiedenen Teilen der von Christen stark bewohnten Regionen in der Türkei oder dem Iran. Mit all diesen Erdbeben etc. sind viele antike Schriften, darunter auch sehr viele Bibelmanuskripte, für immer verloren gegangen.
Verfolgung
In den ersten 3 Jahrhunderten gab es immer wieder lokalisierte Verfolgungen der Christen. Im Rahmen dieser Verfolgungswellen wurden auch viele ihrer Schriften beschlagnahmt und zerstört. Gerade in dieser Anfangszeit war der damit verbundene Verlust in Bezug auf die Originalen und sehr frühen Manuskripte natürlich besonders groß. Aber Verfolgung und Unterdrückung erlebten Christen mal mehr, mal weniger auch in den Jahrhunderten und Jahrtausenden danach durch die Osmanen, Perser, einfallende Germanen etc. Wir müssen davon ausgehen, dass in diesem Rahmen auch immer wieder sehr frühe Texte verloren gegangen sind.
Zerstörung durch Christen
Dieser Punkt wird manche vielleicht wundern, aber anders als für uns heute, schien es für die frühen Christen keine besonders ausgesprochene Priorität gewesen zu sein Manuskripte möglichst gut aufzubewahren. Tatsächlich sind viele der wichtigsten und frühesten Manuskripte, die wir haben, welche die auf einer Müllhalde gefunden wurden. Nämlich die sogenannten Oxyrhynchus-Papyri. Diese wurden Ende des 19. Jahrhunderts auf einer antiken Müllkippe in der Nähe des Ortes Oxyrhynchos im heutigen Ägypten gefunden. Davon wurden viele vorher auch (von den Christen) zerrissen. Das zeigt auf, dass Christen manchmal biblische Manuskripte nach einer längeren Zeit des Gebrauchs wegschmissen, sobald sie diese durch eine neue Kopie ersetzt hatten.
In meinen Augen sollte es jedem einleuchten, warum wir keine originalen Handschriften der Bibel haben und daraus keine große Sache machen, die es nicht ist. Wie zuvor erwähnt - haben wir das bei keinem anderen antiken Text.
Jetzt gibt es Skeptiker (etwa in unserem Instagram-Kommentarbereich), die dagegen Folgendes einwenden:
„Mir ist es völlig egal, ob es Originale von irgendwem gibt. Aber wenn mir Apologeten mit abwegiger Moral und Ethik kommen und etwas als absolut postulieren, dann sollten sie dafür auch außergewöhnlich belastbare Argumente haben. Und das habt ihr ohne Originaltexte nun mal nicht."
Dem kann man nur entgegen: Nein, wir brauchen keine außergewöhnlich belastbaren Argumente für unsere Weltanschauung. Wir brauchen die besten Argumente. Ich weiß nicht, wieso Leute, mit einer absoluten Selbstverständlichkeit, solche Ansprüche stellen können.
Im Falle des Neuen Testaments kann man sehr, sehr gut rekonstruieren, was in den Originalmanuskripten geschrieben wurde. Das NT ist gemäß den Kriterien der wissenschaftlichen Disziplin der Textkritik die am besten überlieferte Schriftsammlung der Antike. Wem das immer noch nicht genügt, weil er „außergewöhnlich belastbare Argumente“ wie die Originale fordert, dem unterstelle ich intellektuelle Unaufrichtigkeit.
Fazit
Es gibt absolut nachvollziehbare Gründe, warum wir heute keine Originalmanuskripte der biblischen Schriften mehr haben. Daher sollte uns das als Christen weder verwundern noch verunsichern. Im Gegenteil können wir mit großer Zuversicht von der Zuverlässigkeit der Überlieferung des neutestamentlichen Textes sprechen.