Das Kontingenz-Argument für Gottes Existenz

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Rolf Marcel Fischer
veröffentlicht am 29.1.2025

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Einleitung

„Kann man so machen, geht aber auch besser!“, war ein Standardsatz meines Mitstudenten, wenn ich ihm eine Arbeit gezeigt hatte und eine Beurteilung von ihm haben wollte. Intuitiv ist diese Erfahrung sehr eingängig: Natürlich könnte ich die Arbeit auch anders schreiben: Beinahe alles könnte daran anders sein: Sie könnte länger, kürzer, klarer, präziser, anschaulicher sein etc…! Bei Licht betrachtet gilt es auch für alle anderen Dinge: Sie sind so, könnten aber auch ganz anders sein. Aus diesem Gedanken heraus wird seit langer Zeit ein Argument formuliert, welches das Argument der Kontingenz lautet. Die Idee: Alles, was beginnt zu existieren, ist nicht notwendigerweise da: Es könnte anders oder auch gar nicht existieren. Wenn es aber für alles gilt, warum gibt es dann überhaupt etwas? Braucht es vielleicht dafür die Annahme eines notwendigen Seins als Fundament aller möglichen/ kontingenten Wirklichkeit? 

Im folgenden Artikel möchte ich das Argument darstellen: Zuerst werden – wie immer – die Begriffe definiert. Anschließend werde ich einen Syllogismus präsentieren und diesen erklären. Bevor ich dann auf die apologetische Brauchbarkeit des Arguments eingehe, möchte ich noch zwei Hauptkritikpunkte beleuchten. 

Begriffsklärung: Was ist Kontingenz?

Kontingenz ist ein etwas schwieriger Begriff, welcher mögliche Wirklichkeit beschreibt. Eine kontingente Wirklichkeit ist Zustand oder ein Ding, welches nicht notwendigerweise (so) existiert: Es geht also um die Frage nach Möglichkeit und Notwendigkeit. Eine Sache könnte zum Beispiel anders oder gar nicht existieren - ohne einen logischen Widerspruch dadurch zu erzeugen. 

Du selbst bist ein gutes Beispiel dafür. Du existierst – offensichtlich. Aber müsstest Du existieren? Wäre es nicht durchaus denkbar, dass Du nicht existierst? Denk an die vielen Entscheidungen, die gefällt werden mussten seit Anbeginn der Zivilisation, dass Du heute diesen Artikel lesen kannst. Du könntest aber auch gar nicht existieren. Es gibt keinen notwendigen Grund, dass Du existieren musst. Selbst wenn Du dann existierst, müsstest Du so aussehen? Die DNA hätte sich auch in (gefühlt) unendlichen anderen Varianten kombinieren können: Aber Du bist  genau so entstanden. Du könntest jetzt auch ein anderes Geschlecht haben, andere Augenfarbe, Körpergröße etc…

Die Beobachtung, dass alle uns zugängliche Dinge nur möglich (denkbar) sind, aber nicht notwendigerweise so oder überhaupt existieren, nennt man also Kontingenz. 

Daneben steht ein anderer Begriff: Notwendigkeit. Notwendigkeit existiert innerhalb unseres materiellen, zeitlichen Denkens nicht: Denn die Begrenztheit der Zeit und der Materie lässt immer Raum für Möglichkeit oder Andersartigkeit – selbst, wenn sie unendlich wäre! Sie ist immer in einer bestimmten Konkretheit des So-Seins, könnte aber auch anders sein. Die Vorstellung der Notwendigkeit meint also eine Form der Existenz, die frei von Ursache und Wirkung ganz und gar aus sich selbst heraus existiert: frei von Raum, Materie und Zeit und nicht nur nicht nicht sein kann, sondern auch nicht anders sein kann: Sie ist reine Notwendigkeit. Sie muss existieren: Die Philosophie des Thomas von Aquin nennt dieses Sein: Unum necessarium (das eine Notwendige), ipsum esse subsistens (Der reine Akt des Seins). Dieses wird dann oft mit Gott gleichgesetzt, was aber keine Willkür ist: Wenn dieses Sein existiert, ist es: ewig, immateriell, notwendig, transzendent, allmächtig, potentiell allwissend, was die meisten wohl mit dem Wort „Gott“ assoziieren würden. Wie immer gilt: Es ist ein weiter Weg vom ipsum esse subsistens zum Gott Abrahams, aber er ist begehbar.  

Der syllogistische Aufbau des Arguments

Ein Syllogismus ist nicht nur einfacher zu merken, sondern ist auch immer hilfreich, um eine Argumentation zu präzisieren und zu verstehen. 

Der Syllogismus des Kontingenz Arguments kann so aussehen: 

Prämisse 1:  Alles, was existiert, ist entweder kontingent oder notwendig.

Prämisse 2:  Es kann nicht nur kontingente Dinge geben.

Conclusio: Daher muss ein notwendiges Wesen existieren, das die kontingenten Dinge begründet.

Ausführliche Erklärung des Arguments

Grundidee
Das Kontingenz-Argument fragt nach einer ultimativen Erklärung für die Existenz von Dingen. Da kontingente Dinge keine ausreichende Erklärung in sich selbst haben, muss es etwas geben, das von einer anderen Kategorie ist: ein notwendiges Wesen.

Erste Prämisse: „Alles, was existiert, ist entweder kontingent oder notwendig.“

 

Diese Prämisse beruht auf der Zweigliedrigkeit zwischen Kontingenz und Notwendigkeit. Dinge können logisch betrachtet entweder:

- Abhängig von anderen Ursachen sein (kontingent), oder

- Unabhängig existieren und aus sich selbst heraus notwendigerweise sein (notwendig).

Dinge sind also entweder von ihrer Existenz her durch ihre Materialität und Zeitlichkeit kontingent (sie könnten anders sein) oder gar nicht existieren: Existenz ist kein notwendiges Prädikat des Kontingenten. Ein Beispiel: Autos existieren: Aber die Definition des Autos beinhaltet nicht ihre tatsächliche Existenz. Nehmen wir ein anderes Beispiel, Drachen: Wir haben eine recht konkrete Vorstellung, was und wie ein Drache aussieht, doch ist die Existenz kein Teil der Definition: Sie können existieren, müssen es aber nicht. Wir haben zwar eine konkrete Vorstellung davon, welche aber nicht beinhaltet, dass die Welt ohne Drachen gar keinen Sinn ergäbe oder die Definition eines Drachen logisch widersprüchlich wäre, wären sie nicht Realität. Nein, die Vorstellung eines Drachen ist widerspruchsfrei, auch wenn sie gar nicht existieren.

Die einzige andere Alternative wäre ein Sein, in welchem die Existenz Teil der Definition wäre: Dieses Sein müsste existieren, weil es ein logischer Widerspruch wäre, es nicht zu sein, es wäre notwendig.

Zweite Prämisse: „Es kann nicht nur kontingente Dinge geben.“

Diese Prämisse wird oft durch das Prinzip der hinreichenden Erklärung unterstützt: Jede Tatsache braucht eine Erklärung. Wenn alles kontingent wäre, müsste es eine unendliche Kette von Ursachen geben, was metaphysisch problematisch ist. Daher muss es etwas geben, das die Kette der Kontingenz überschreitet und sich selbst erklärt. Klingt kompliziert? Ist es auch, wenn es bis zum letzten durchdeklinieren wollte, aber die Idee ist simpel: Wenn alles nur als Möglichkeit existiert, braucht alles eine Erklärung, warum es überhaupt ist und warum es genau so existiert. Wenn aber alles nur als Möglichkeit besteht, warum existiert dann überhaupt etwas? Es könnte theoretisch einen sogenannten infiniten Regress geben. Das ist ein tolles Wort, das eine unendliche Kette an Ursachen beschreibt.

Problem eins: Es ist metaphysisch sehr schwierig, eine unendliche Kette an kontigenten Ursachen zu denken.

Problem zwei: Dazu müsste das Universum unendlich (zeitlich und räumlich) sein, was es nicht ist.

Problem drei: Wenn es diesen infiniten Regress gibt, gäbe es Dich und mich nicht, - es gäbe kein Heute. Warum? Weil vor dem Heute noch eine unendliche Zahl anderer Tage käme und nie das heute erreicht würde. Es gibt ein Heute, also gibt es nicht den infiniten Regress.

Problem 4: Ein infiniter Regress funktioniert – wenn er funktioniert! – nur in der Vergangenheit. Aber die Kette der Kontingenz existiert ja auch zu diesem Zeitpunkt und nicht nur als unendliche Kette in die Vergangenheit: Auch das Jetzt ist in seiner ganzen Kette von Ursache und Wirkung, Potenzialität und Aktualität existent und tatsächlich: Hier ist ein infiniter Regress nicht möglich und bedarf der Antwort auf die Frage, was denn den  „Jetzt – Moment“ im Sein verhält, wenn es auch nicht sein könnte?

Ein infiniter Regress ist also schwierig metaphysisch zu begründen, enthält enorme logische Lücken und beantwortet im eigentlichen auch nicht die Frage nach der Letztbegründung der momentanen Kontingenz des Moments.

Schlussfolgerung: „Es muss ein notwendiges Wesen geben.“

Deshalb muss es ein notwendiges Wesen geben, welches notwendigerweise existiert und keinerlei Möglichkeit, Potentialität, Zeitlichkeit oder Materialität besitzt und dessen Wesen, dessen Essenz es ausmacht zu sein: Es ist völlig selbstgenügsam und existiert aus sich selbst heraus ohne eine eigene Ursache zu haben. Dieses Wesen wird oft als Gott identifiziert, da es die Eigenschaften von Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit haben muss.

Kritikpunkte und Gegenargumente

Kritikpunkt 1: Ist die Dichotomie zwischen Kontingenz und Notwendigkeit zwingend?

Einige Kritiker argumentieren, dass die Kategorien „kontingent“ und „notwendig“ nicht erschöpfend sind. Es könnte eine dritte Kategorie geben, die wir noch nicht kennen. Apologeten entgegnen, dass jede mögliche dritte Kategorie letztlich entweder kontingent oder notwendig sein muss, da dies die Grundlage der Logik ist.

Simpel: Die Idee der Kritik basiert auf dem Argument des „Noch nicht Wissens“: Es könnte ja auch eine dritte Alternative geben, die wir noch nicht erkannt haben. Kann das sein? Eigentlich nicht, denn eine solche dritte Alternative würde einerseits Ursache, Möglichkeit und Veränderung in sich tragen – innerhalb von Raum, Zeit und Materie – und andererseits genau dieses nicht in sich vereinen. Dies widerspricht aber den grundlegendsten Regeln der Logik: Die Regel der Nicht Widersprüchlichkeit: Zwei sich widersprechende Aussagen über den gleichen Gegenstand können nicht gleichzeitig wahr sein. 

Eine einfache modallogische Begründung des Satzes der Widerspruchsfreiheit könnte so lauten:

  1. Angenommen, A und ¬A (also die Aussage A und ihre Verneinung) könnten gleichzeitig wahr sein.
  2. Nach dem Grundsatz der Logik gilt ¬(A∧¬A): Es ist unmöglich, dass eine Aussage und ihre Verneinung gleichzeitig wahr sind, da sie einander ausschließen.

Daher folgt, dass A und ¬A nicht gleichzeitig wahr sein können.

Kritikpunkt 2: Warum muss die Kette der Kontingenz aufhören?

Eine andere Kritik besagt, dass eine unendliche Kette kontingenter Dinge möglich sein könnte. Das Problem des infiniten Regresses habe ich oben schon behandelt, aber es kann auch anders beantwortet werden: Selbst wenn wir widerspruchsfrei und wissenschaftlich fundiert annehmen, es könnte eine solche infinite Kette geben, ist sie ja in sich selbst auch kontigent: Die Kette ist zwar unendlich lang und alt, aber nicht ewig (zeitlos): Sie existiert in ihrer unglaublichen Komplexität in einer bestimmten Form – sie hat einen Gesamtzustand. Nun, könnte sie nicht auch anders verlaufen sein? Könnte die Kette der Möglichkeiten nicht zu einem ganz anderen Jetzt-Zustand geführt haben? Ja, könnte sie und damit bleibt die gleiche Frage im Raum, nur, dass man sie auf eine andere Ebene verschiebt (gleiches Problem übrigens bei der Annahme von unendlichen Parallel- oder Multiversen): Warum existiert die Kette überhaupt und warum so? Warum ist sie nicht ganz anders in ihrer Gesamtheit beschaffen? 

Wenn alles nur möglicherweise existiert, wäre es dann nicht logisch notwendig anzunehmen, was es auch in einem infiniten Regress eine notwendige Entität als Letztbegründung bräuchte? Schließlich existieren wir und sind da! Gäbe es keine Notwendigkeit als Fundament, wäre eigentlich die Schlussfolgerung, dass es auch uns nicht geben dürfte. Wir existieren aber, also auch Gott. 

Zusammenfassung und abschließende Beurteilung

Ich habe versucht in diesem Artikel einen sehr simplen und doch sehr komplizierten Gedankengang als Argument für die Existenz Gottes darzulegen: Wenn alles nur als Möglichkeit existiert, dürfte es eigentlich gar nicht existieren, also braucht es die Notwendigkeit, die wir Gott nennen. 

Je länger man darüber nachdenkt, desto schwieriger wird es, weshalb die Religionsphilosophen sich dann der Modallogik bedienen (Man formuliert durch Gleichungen und ohne Sätze, da diese zu unpräzise sind) und dann wird es wirklich schwierig. Die Idee aber ist sehr eingängig, leicht zu verstehen und die Einwände sind auch sehr gut zu verstehen und zu merken. Wenn man also nicht gerade einen Religionsphilosophen vor sich sitzen hat, ist das Argument der Kontingenz ein sehr gutes. 

Allerdings bedarf ein gewisses Maß an philosophischer Begrifflichkeit, die einen Menschen schnell in die Arme des Aristoteles und Thomas von Aquins wirft: Das ist an sich gar nicht verwerflich, braucht aber viel Zeit, um es wirklich zu durchdringen und ist vor allem in eher reformierten Gemeinden oft nicht gern gesehen: Es klingt nämlich schnell nach einer Rationalisierung des Glaubens. Diese Beunruhigung ist berechtigt und sollte immer auf der eigenen Agenda stehen, ist aber kein Grund, sich nicht der Begriffe zu bedienen, um gute Apologetik betreiben zu können. Das eine tun, ohne das andere zu lassen, oder biblisch formuliert: Prüft alles und behaltet das Gute!